Wirtschaft Chinas Wirtschaftswunder im westlichen Hinterland

Chinas Wirtschaftswunder verlagert sich auf das Hinterland im Westen.Von den Deutschen wagt sich zuerst der Mittelstand in das fremde Terrain.

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Der badische Sanitärkeramikhersteller Quelle: dpa

Dirk Lange sitzt im Fond seines schwarzen Firmenwagens. Er sagt gerade: „Offiziell gehören die Fabrik und das Land hier...“ – da steigt der Fahrer in die Bremse, die Schwerkraft presst Lange in den Sicherheitsgurt. Mitten in der Kurve steht eine Ziegenherde auf der Straße, keinen Meter vor der Stoßstange. Lange atmet zweimal tief durch, bevor er seinen Satz beendet: „...noch zu Chongqing, eine riesige Stadt. Doch hier draußen wohnen vor allem Bauern.“

Wir sind auf dem Weg zur Fabrik des badischen Sanitärkeramikherstellers Duravit, und die Stadt Chongqing, von der Duravit-China-Geschäftsführer Lange spricht, ist mit 32 Millionen Einwohnern die größte Kommune der Welt. Eine gute Stunde dauert die Fahrt vom Zentrum der dröhnenden Metropole im schwülheißen chinesischen Südwesten. Irgendwann verlässt der Wagen die Autobahn. Schmale Straßen winden sich durch die Landschaft. Der Wagen fährt über eine Brücke, dann links; nach ein paar Hundert Metern hält er vor einer Halle: die Fabrik von Duravit und nebenan der Bürotrakt. Entlang der Längswand hängen Kloschüsseln und Pissoirs. Vögel zwitschern.

Vor drei Jahren ist Duravit hierhin gekommen, der erste große Investor aus Deutschland. Die Badener bauten zwischen Feldern und Hügeln eine Fabrik für 20 Millionen US-Dollar. Niemand ging damals nach Chongqing, erst recht nicht in einen so weit außerhalb gelegenen Vorort. Duravit wollte damals erst einmal nur den chinesischen Markt erkunden und gründete zunächst ein Joint Venture mit dem lokalen Badezimmerausstatter Swell Ceramics. Dessen Fabrik liegt gleich nebenan in einem Gebäude aus rotem Backstein. Das Joint Venture lief jedoch nicht wie geplant, im Jahr 2006 trennten sich beide Unternehmen. Doch Duravit blieb – und wuchs.

Das Hinterland holt wirtschaftlich auf

Inzwischen kommen regelmäßig Delegationen aus Deutschland und dem ganzen Rest Chinas zu Besuch. Und wenn Lange mal wieder bei der deutschen Auslandshandelskammer in Shanghai zu Besuch ist, wundert sich heute niemand mehr, dass seine Fabrik in Chongqing steht. Großes wird dort nämlich geschehen.

Man muss sich China wie ein Kotelett vorstellen: Ein breiter Speckstreifen entlang der Ostküste, wo die Wirtschaft seit Jahren boomt. Doch der ganze weite Westen ist zähes trockenes Fleisch. Vor 30 Jahren begann China mit der Öffnung seiner Wirtschaft. Der Reformer Deng Xiaoping bat die Menschen um Geduld: „Einige werden früher reich werden als andere.“ Deng gründete Sonderwirtschaftszonen entlang der Küste und warb um ausländische Investoren. In den Industrieregionen der Küstenprovinzen begann der größte Boom in der Geschichte der Weltwirtschaft.

Die Bauern im Westen haben lange nur zuschauen oder sich als Wanderarbeiter in den Küstenprovinzen verdingen können. Jetzt holt das Hinterland auf. Vor zehn Jahren startete die Regierung ihr „Go West“-Programm, um die Inlandsprovinzen für Investoren aus dem Ausland attraktiver zu machen. Im Jahr 2000 verkündete Peking ein Infrastrukturprogramm mit einem geschätzten Umfang von 1000 Milliarden Yuan – umgerechnet rund 100 Milliarden Euro. Zehntausende Autobahnkilometer sind inzwischen entstanden. Die Energieversorgung ist so stabil wie im Rest Chinas. Dutzende neue Flughäfen wurden eröffnet. Jetzt zeigen sich die Früchte.

Lange ist stolz auf seine Fabrik. Es ist warm in der Halle. Kloschüsseln und Waschbecken trocknen in Gipsformen. Eine rote Digitalanzeige zeigt die Fehlerquote. „Wir erreichen hier die gleiche Qualität wie in unseren Werken in Europa“, sagt Lange. In Shanghai wäre Duravit einer von Tausenden ausländischen Investoren. „Wenn wir hier ein Problem haben, hilft uns der Vizebürgermeister persönlich.“

Monatlich verfügbares Pro-Kopf-Einkommen in China (Zur Vollansicht bitte auf die Grafik klicken) Quelle: Nationales Chinesisches Staatsbüro, eigene Recherche

Immer mehr ausländische Firmen folgen dem Ruf des chinesischen Westens. Chiphersteller Infineon hat bereits vor vier Jahren ein Designzentrum in der ehemaligen Seidenstraßen-Stadt Xian eröffnet, Intel hat über eine halbe Milliarde Dollar in eine Fabrik in Chengdu in der Provinz Sichuan investiert. Dort eröffnete IBM im vergangenen Jahr auch eines seiner neuen globalen Servicezentren. Der amerikanische Autohersteller Ford produziert bereits in Chongqing. Hier bauen auch Evonik, Degussa und BASF neue Fabriken.

Westchina ist ein strategischer Markt geworden und die Millionenmetropole Chongqing zum wichtigsten Wirtschaftszentrum des lange vergessenen chinesischen Westens. Der Mobilfunkkonzern China Mobile gewinnt hier jeden Monat rund acht bis neun Millionen neue Kunden. An der Ostküste besitzt inzwischen fast jeder ein Handy. Die Neukunden wohnen in den Dörfern des Westens. Auch der Pharmakonzern AstraZeneca konzentriert sich inzwischen auf das Hinterland und verkauft dadurch im ganzen Land mehr verschreibungspflichtige Medikamente als jeder andere ausländische Konzern. Zwischen 2001 und dem vergangenen Jahr stieg der Absatz um mehr als das Fünffache.

Li Shirong ist Vizedirektorin der Wirtschaftskommission von Chongqing. Sie trägt ein strenges grünes Kostüm und spricht sehr schnell in perfektem Englisch. Chinesische Beamte beginnen ihre Vorträge gewöhnlich mit langen Zahlenkolonnen und Li ist keine Ausnahme: 20 der 32 Millionen Einwohner wohnen noch immer im Umland, doch in zwei Jahren soll die Urbanisierungsrate 54 Prozent erreichen. Im vergangenen Jahr sind die ausländischen Direktinvestitionen in Chongqing um 55 Prozent gewachsen, und 2008 werden sie sich sogar verdoppeln. 5.000 ausländische Firmen sitzen inzwischen hier.

Es ist eine gewaltige Aufgabe, die Infrastruktur dafür zu schaffen. Bis 2010 wollen die Chinesen die Strecke der Autobahnkilometer hier auf über 2.000 verdoppeln und eines der größten Flughafendrehkreuze der Welt schaffen. Auch bei der Bildung will Chongqing führend werden. Die Stadt hat bereits 57 Universitäten. Nach diesen Zahlen macht Li eine kurze Pause. „Wir wollen das chinesische Chicago werden“, sagt sie.

Blick nach Europa

Solche Chicagos könnte es bald mehrere geben. Denn der größte Infrastrukturnachteil des Westens ist die dünne Besiedelung. Die Regierung will deshalb Millionen chinesischer Bauern in den kommenden Jahren in die Städte umsiedeln. Der Reichtum, den Deng seinem Volk verkündete, ist nur in den Städten möglich.

Inzwischen hat auch der Westen seine ersten Wirtschaftsstars. Die Lifan Industrial Group aus Chongqing gehört mit rund 14.000 Angestellten zu den größten privaten Konzernen des chinesischen Westens. 1992 startete der schillernde Unternehmer Yin Mingshan seine Firma als Motorradwerkstatt mit sieben Mitarbeitern. Im vergangenen Jahr produzierte das Unternehmen 1,6 Millionen Motorräder und gehört damit zu den größten Herstellern der Welt. „Motorräder sind eine komische Industrie“, sagt Yin. „Wenn die Menschen reicher werden, kaufen sie mehr Motorräder. Doch wenn sie noch reicher werden, kaufen sie weniger und steigen aufs Auto um.“

Lifan will den Trend nicht verpassen und hat deshalb vor zwei Jahren schon mit der Automobilproduktion begonnen. Inzwischen produziert der Konzern drei Fahrzeuge. Das günstige Einsteigermodell Lifan 320 soll im Oktober auf den Markt kommen – für umgerechnet 3.000 bis 4.000 Euro. Der Einstieg in die Autoproduktion soll Lifan zu einem globalen Konzern machen. Vier Autofabriken hat Lifan in den vergangenen Monaten bereits im Ausland eröffnet, in Vietnam, Äthiopien, Russland und Iran. Bald sollen weitere folgen: in Pakistan, Uruguay, Ägypten und Mexiko.

Lifan dürfte der erfolgreichste Konzern Westchinas sein. Doch Firmengründer Yin Mingshan will noch weiter nach Westen vordringen. „Wir brauchen noch zwei Jahre, um die Umwelt- und Sicherheitsauflagen in Europa zu erfüllen“, sagt Yin. Dann will er seine Autos auch in die entwickelten Märkte in Frankreich, Deutschland und England exportieren. Ganz tief im Westen.

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