Im laufenden Jahr wird das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) statt um 2,7 Prozent sogar um 3,8 Prozent schrumpfen, schätzt die Weltbank. Putin beteuerte Mitte Oktober, die wirtschaftliche Krise des Landes sei überstanden, es gehe wieder aufwärts. In Wahrheit aber ging die Industrieproduktion im September um 3,7 Prozent zurück, die Kapitalinvestitionen sanken gar um 5,6 Prozent, die Inflationsrate liegt mittlerweile im zweistelligen Bereich. Der private Konsum ist eingebrochen – kein Wunder, fielen doch die Realeinkommen der Russen seit Jahresbeginn um nicht weniger als zehn Prozent.
Dennoch ist die Stimmung im Land erstaunlich gut, allen Lohnsenkungen und Anleitungen zur Kurzarbeit zum Trotz – und sie wird sogar immer besser, je weiter man sich von der Hauptstadt Moskau entfernt, etwa in die westsibirische Provinzstadt Tomsk.
Dort sind die Cafés und Restaurants in der historischen Innenstadt mit ihren hübschen Holzhäusern prall gefüllt. „Die Russen verstehen nicht, was Rezession bedeutet, sie geben aus, was sie haben“, sagt Anatoli Karlow und fährt in seinem Geländewagen über den ersten Neuschnee in einen Vorort von Tomsk. Dort baut der Mediziner eine Fabrik zur Entwicklung von Gelenkimplantaten aus Keramik. Sein Betrieb ist ein Tochterunternehmen des thüringischen Mittelständlers Moje. Kapital aus Deutschland macht die Expansion möglich.
Karlow selbst will von Rezession ebenfalls nichts hören, er sieht sich als ein Krisenprofiteur. Im Gesundheitssektor gehe die Regierung landesweit dazu über, bevorzugt heimische Produkte einzukaufen, etwa von Karlows Firma. „Importsubstitution“ lautet das neue Zauberwort russischer Wirtschaftspolitiker, seit hohe Importpreise infolge der Rubel-Schwäche und westlicher Sanktionen die Einfuhren drosseln. „Die Regierung hätte damit schon vor 20 Jahren beginnen sollen“, sagt Karlow. Inzwischen sei es nämlich für russische Unternehmen kaum mehr möglich, mit dem technologischen Fortschritt der Welt Schritt zu halten – auch da der Ölreichtum vergangener Jahre zum Nichtstun verführt und Unternehmertum gebremst hat.
So benehmen Sie sich in Russland richtig
Vorsicht bei Dekorationen! Mit bestimmten Farben und Zahlen assoziieren Russen Gutes oder Schlechtes. Günstig: Rot (Schönheit, Auferstehung, Liebe), Grün, Blau, Drei, Sieben, Zwölf. Ungünstig: Schwarz, Dreizehn. Weiß steht für Reinheit, aber auch für Trauer.
Die typische Form besteht aus Vornamen und Vatersnamen (dem abgewandelten Vornamen des Vaters). Heißt Ihr Gegenüber Sergej und sein Vater Oskar, lautet die Anrede: „Sergej Oskarowitsch“. Mit hierarchischen Titeln werden nur hochrangige Personen wie Generaldirektoren oder Minister angeredet.
Operatives regelt man beim Lunch, das preiswert bleiben darf. Beim Abendessen sollten Sie aber nicht knausern! Hier werden Freundschaften vertieft.
Der Körperabstand in Russland ist geringer als bei uns. Im Gespräch wird auch schon mal der Arm berührt oder auf die Schulter geklopft. Ein Sympathiebeweis! Wenn man sich besser kennt, geht das – auch unter Männern – bis zur Umarmung oder zum Wangenkuss.
Seien Sie am Anfang nie zu freundlich. Betont lockeres und humorvolles Auftreten stößt Russen als zu amerikanisch auf. Es kann sogar als Schwäche ausgelegt werden. Der Ton wird freundlicher, je besser man sich kennt.
Von Frauen wird famoses Aussehen und verbale Zurückhaltung erwartet. Frauen passiert es, dass ihnen nur ein Nicken geschenkt wird, während ein Geschäftspartner ihrem männlichen Kollegen ausgiebig die Hand schüttelt. Das ändert sich: In modernen Unternehmen nimmt die Zahl der Frauen im Management zu.
Kleine Hilfestellungen fördern das Vertrauen und werden erwartet. Ein Russe verstünde es nicht, wenn Sie ihm die Bitte abschlagen, beim Visumantrag zu helfen oder sich in Deutschland über Ausbildungschancen für seine Kinder zu erkundigen. Umgekehrt werden Gefälligkeiten nicht vergessen.
Geschenke mitzubringen, gehört zum guten Ton. Ihr Wert, der persönliche Bezug und die Sorgfalt bei der Auswahl sollten mit der Dauer und Tiefe der Beziehung zunehmen. Blumen sind gut, aber: In gerader Zahl schenkt man sie nur bei Begräbnissen. Gelbe und weiße Blumen werden mit Trauer und Verlust assoziiert.
Zugeständnisse sollten Sie nur mit Gegenleistungen machen. Begründen Sie Ihr Einlenken mit persönlicher Sympathie und dem Interesse an einer langfristigen Beziehung. Wer zu schnell Kompromisse eingeht, wirkt schwach – und wird nicht geschätzt.
Der wichtigste Mann im Unternehmen ist der Chef. Halten Sie sich stets an ihn, denn in den meisten Unternehmen passiert nichts, was nicht über seinen Tisch gegangen ist. Delegiert wird selten.
Russen sind belesen und interessieren sich sowohl für Technik und Naturwissenschaft als auch für Kunst, Musik und Literatur. Wer auf hohem Niveau mitplaudern kann, gewinnt an Format. Wer Tolstoi, Dostojewski oder Puschkin gelesen hat, genießt Respekt.
Deutsche stehen im Ruf, pünktlich, verlässlich und diszipliniert zu sein. Das ist ein Bonus, der genutzt werden sollte. Wer hingegen die Erwartungen enttäuscht, verliert enorm an Sympathie.
Wer etwas erreichen will, sollte Russisch sprechen, zumindest aber einen Dolmetscher haben. Viele Russen halten es so wie die Amerikaner: unsere Sprache oder keine.
Verliert ein Russe plötzlich die Contenance, sollten Sie ihm selbstbewusst und entschieden begegnen – jedoch nie belehrend. Lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn er auf den Tisch haut oder wutschnaubend den Raum verlässt. Das ist Temperament – zuweilen auch Taktik.
Um das Wodkatrinken kommt man in Russland oft nicht herum. Der erste Trinkspruch ist Sache des Gastgebers. Später wird aber auch ein Toast vom Gast erwartet. Trinksprüche drehen sich dabei häufig um die Freundschaft, das Leben oder die Schönheit der
Frauen. Den Gastgeber zu loben, ist selbstverständlich immer angebracht
Aber selbst wenn Unternehmer Karlow davon profitiert, weiß er doch, dass die Importsubstitution kein Allheilmittel für eine Volkswirtschaft sein kann. Und seine schmucke Heimat Tomsk könnte zeigen, wie Innovation in Russland wieder funktioniert. Die Bevölkerung von derzeit 565.000 Einwohnern wächst, auch wegen der neun Universitäten, die zu den besten des Landes zählen. Die Stadt hat zwei Sonderwirtschaftszonen mit Niedrigsteuern für forschende Unternehmen eingerichtet. „Es geht uns nicht in erster Linie darum, Investoren anzuziehen“, sagt Vizegouverneur Nikolai Glebowitsch. „Wir müssen dafür sorgen, dass die hoch Qualifizierten hier bleiben und etwas auf die Beine stellen.“
Doch die strukturellen Probleme des gewaltigen Landes sind auch in Tomsk zu spüren, sagt Glebowitsch: „Seit mehr als einem Jahr sind Kredite außerhalb des Großraums Moskau nicht mehr verfügbar.“ Das bremse Privatleute bei ihren Investitionen. Überdies fehlten auch dieser Region Mittel, um mit einer aktiven Wirtschaftspolitik systematisch Nutzen aus dem niedrigen Rubel-Kurs zu schlagen und Exporte anzukurbeln.
Es wäre Sache des Kreml, eine schlüssige landesweite Strategie zur Modernisierung der Wirtschaft und geringerer Abhängigkeit von Rohstoffen vorzulegen. Die Blaupause dafür haben einheimische und internationale Ökonomen längst skizziert: Putins Regierung müsste den Druck der Sanktionen und den billigen Rubel nutzen, um die heimische Produktion endlich massiv auszubauen. Zudem wären niedrigere Steuersätze für die verarbeitende Industrie auf Kosten der Exporteure von Rohöl vonnöten, ebenso wie niedrigere Zölle. Investoren benötigten leichteren Zugang zu günstigen Krediten, und zahlreiche Wirtschaftsmonopole müssten fallen.