Wenn es nach Karl Marx ginge, dürfte es Wang Wentao so nicht geben. Aber die 34-jährige Chinesin ist da, hält ihr Baby auf dem Arm, das iPhone klingelt. Während sie die acht Monate alte Tochter wiegt, verabredet sie sich mit einer Freundin in einem Restaurant.
Als Wentao ein Kind war, teilte sich ihre Familie ein Badezimmer mit vier Familien. Heute bewohnt sie mit Mann und Tochter eine Eigentumswohnung im 15. Stock eines Hochhauses in Chengdu, einer Stadt in Zentralchina. In Chengdu leben mehr als zehn Millionen Menschen. Vor drei Jahren hat das Paar geheiratet. Wie üblich in China, haben die Eltern der beiden zusammengelegt und zur Hochzeit eine Drei-Zimmer-Wohnung gekauft. Das Wohnzimmer ist in erdfarbenen Tönen gehalten, das Zentrum des Raumes bildet ein Flachbildfernseher. Neben dem Balkon ist ein kleines Arbeitszimmer mit zwei Computern.
Wentaos Mann, ein Flugzeugingenieur, brät in der Küche Jiaozi, eine Art chinesische Ravioli. Die Lehrerin verdient 4.500 Yuan im Monat, ihr Mann das Doppelte. Zusammen verfügen sie über umgerechnet rund 1.700 Euro. Nicht viel, aber auch nicht wenig in einem Land, in dem ein Restaurantbesuch selten mehr als zehn Euro kostet. Die Familie ist technisch gut ausgestattet: Waschmaschine, Computer, Geschirrspüler. „Was ich noch gerne hätte? Eine Kamera, um mehr Bilder von meiner Tochter zu machen“, sagt Wentao. „Und in den Urlaub würde ich gerne.“
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Die neue chinesische Mittelschicht
Im „Kommunistischen Manifest“, 1848 von Karl Marx verfasst, heißt es: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“ So sagte Marx den Klassenkampf voraus, den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie, der Lohnsklaven gegen die Besitzenden. Am Ende würde die klassenlose Gesellschaft stehen. Von Mittelschicht ist da keine Rede – weshalb manche jetzt von einer „historischen Anomalie“ sprechen. Denn die meisten Menschen, die je auf der Erde gelebt haben, waren arm.
Erst wurde der Klassenkampf in Europa begraben, jetzt auch im nur noch formell kommunistischen China. Der praktizierte Kapitalismus lässt die Löhne steigen, die arbeitende Bevölkerung wird reicher. 2011 stiegen die Gehälter im Schnitt um 20 Prozent. Menschen wie Wentao, die vor 15 Jahren von einem Kühlschrank träumten, leben heute mit Waschmaschinen, Smartphones, Autos. Knapp 300 Millionen Menschen zählen schon heute zur neuen chinesischen Mittelschicht, was konkret bedeutet, dass sie im Jahr zwischen 10.000 und 60.000 Dollar verdienen. 2025 werden es 500 Millionen Menschen sein, die über ein mittleres Einkommen und einen hohen Bildungsstand verfügen.
Kulturspezifisches Konsumverhalten
Die Zeiten, in denen China die Werkbank der Welt war, als Wanderarbeiter in stickigen Fabriken zu Hungerlöhnen T-Shirts produzierten, nähern sich dem Ende. 2009 wurden in China bereits die meisten Autos weltweit abgesetzt, mit 700 Millionen Handynutzern ist China der größte Mobilfunkmarkt der Welt. Dennoch kaufen Chinas Bürger bisher verhältnismäßig wenig ein: 2011 gingen nur 37 Prozent des Volkseinkommens in den Konsum. Der Durchschnitt weltweit liegt bei 61 Prozent. Die Sparquote der privaten Haushalte dagegen gehört zu den höchsten der Welt. Die Regierung will gemäß des zwölften Fünfjahresplans die Exportwirtschaft in einen technologisierten Binnenmarkt transferieren, um so unabhängiger von den Schwankungen der Weltkonjunktur zu werden. Das ist ein Problem für Unternehmen, die auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind. Für andere, die nach neuen Kunden suchen, ist es eine gewaltige Chance.
Die westliche Verlockung
Eine Fabrik hat Yang Zhizhi nie von innen gesehen. Der studierte Chemiker aus Shanghai wirkt etwas verloren in seiner mit technischem Gerät vollgestellten Wohnung, die er mit seinen Schwiegereltern teilt. Der 28-Jährige hat vor einigen Monaten seinen Job gekündigt, um sich mit seiner Frau auf der Internet-Plattform Taobao, einer Mischung aus Amazon und Ebay, selbstständig zu machen. Sie verkaufen Backutensilien an andere chinesische Mittelschichtsfamilien. „Backen liegt im Trend“, sagt seine Frau Lingming. „Einerseits haben die Leute Angst vor all den Lebensmittelskandalen in China, auf der anderen Seite fühlen sie sich von westlichen Produkten angezogen.“ Rund 2.500 Euro verdienen die beiden damit im Monat. Ihr Kühlschrank ist von Bosch, der Fernseher von Sony, das Handy von Apple.
Christ kennt nur Wohlstand
Es gibt sie schon jetzt, die Erfolgsgeschichten westlicher Unternehmen in China, die ihre Produkte an Wang Wentao oder Yang Zhizhi verkaufen. Die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken hat gefühlt an jeder dritten Kreuzung in Shanghai eine Filiale. In jeder Provinzhauptstadt leuchten in bester Lage die Blingbling-Marken Gucci und Louis Vuitton. Und natürlich richten sich deutsche Autobauer seit Jahren an wohlhabendere Chinesen. Für Volkswagen ist China bereits der wichtigste Markt, mit mehr als 50.000 Mitarbeitern zählt VW zu den größten internationalen Unternehmen des Landes. Im September vergangenen Jahres eröffnete der Konzern eine neue Produktion im Binnenland, in Chengdu. Im April dieses Jahres gab das Unternehmen bekannt, ein Werk in Urumqi, in der westlichsten chinesischen Provinz Xinjiang, zu planen.
In der kleinen Wohnung der Familie Luo in Chengdu leben drei Generationen unter einem Dach. Der Großvater, 83, war Soldat der Volksarmee, bevor er in einem staatlichen Stahlwerk Arbeit fand. Sein Enkel Chris ist 13 Jahre alt, er kennt nichts anderes als Wohlstand. Wochenlang hat er seinen Vater bearbeitet, dass er unbedingt ein iPad brauche. Schließlich gab der Vater nach. Jetzt hat Chris zwar kein eigenes, aber immerhin ein Familien-iPad. Seitdem nutzt er täglich den Internet-Dienst „Weibo“, eine Mischung aus Facebook und Twitter und zudem das einzig quasi-offene Forum des Landes. „Meistens poste ich, was ich gerade mache oder lade Bilder hoch, was ich heute gegessen habe.“ Er gehört zu einer neuen Generation, für die das Leben im Netz etwas Selbstverständliches ist.
Chinas Konsumverhalten
„Diese Entwicklung wird China von Grund auf verändern“, sagt Edward Tse, China-Chef der Unternehmensberatung Booz. Zwar stünden ausländische Firmen nach wie vor hoch im Kurs, aber das sei längst kein Selbstläufer mehr. Auch Mary Bergstrom ist skeptisch, ob der Erfolg westlicher Konzerne in China von Dauer sein wird. Die Unternehmensberaterin ist Autorin des Buches „All Eyes East“, das sich mit dem Konsumverhalten chinesischer Jugendlicher beschäftigt, und sie hat darin festgestellt: Konzepte, die in Europa funktionieren, versagen in China. Wer einen Turnschuh mit Slogans wie „Be yourself“ oder gar „Be rebellious“ vermarktet, erreicht junge Chinesen, die ihr ganzes Leben auf Anpassung getrimmt werden, kaum. Auch Authentizität, vor allem in Deutschland ein wichtiges Gütesiegel, gilt in China wenig. Stattdessen definieren sich Menschen sehr stark mit ihrem Jahrgang. Es gibt Siebziger, Achtziger und Neunziger, die sich möglichst klar voneinander absetzen wollen. Konsum habe darüber hinaus eine eigenständige Bedeutung: „Da junge Chinesen keine Möglichkeit haben, sich politisch auszudrücken, weil sie in feste Rollen in der Familie gezwungen sind, ist Konsum für sie der einzige Kanal, frei zu wählen“, sagt Bergstrom. „Wenn sich chinesische Konsumenten von einer Firma enttäuscht fühlen, werden sie aktiv.“
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Niere gegen iPad
Welch unangenehme Folgen das haben kann, musste Anfang des Jahres der deutsche Konzern BSH Bosch Siemens Hausgeräte erfahren. Das Unternehmen ist seit den Neunzigerjahren auf dem Markt und hat früh die Mittelschicht als Konsumenten wahrgenommen. Zwölf Prozent Marktanteil hat die Firma heute im Bereich Kühlschränke. Als der Blogger Luo Yonghua aus Ärger über eine schlecht schließende Kühlschranktür vor die Konzernzentrale in Peking zog und dort einen Kühlschrank zertrümmerte, erntete BSH einen Shitstorm. Am Ende musste sich Roland Gerke, China-Chef des Unternehmens, per Videobotschaft entschuldigen. BSH ist damit nicht allein. Fast wöchentlich trifft es eine neue, meist westliche Firma. Im April riefen Weibo-User zum Boykott von Coca-Cola auf – angeblich habe ein Werk chlorhaltiges Wasser verwendet. Andere zerstörten öffentlich Autos von Lamborghini und BMW. Doch auch die Produktverehrung treibt Blüten: Im vergangenen Jahr verkaufte ein Teenager seine Niere – für ein iPad.
„Marken brauchen eine Geschichte und persönliche Verbindung zu den Konsumenten“, sagt Autorin Bergstrom. Nur wer sich auf die chinesische Mittelschicht einstelle, werde dort Erfolg haben. Der Lebensmittelkonzern Dr. Oetker bietet seit einiger Zeit Tiefkühlpizzen in China an, die in Mikrowellen in verzehrfertigen Zustand gebracht werden können. Chinesen haben nämlich im Allgemeinen keinen Backofen. Häagen-Dazs verkauft sein Eis neuerdings im Freien: Wenn Chinesen ein so teures Eis kaufen, dann wollen sie dabei gesehen werden. Pizza Hut bietet „Triumph-Mahlzeiten“ an, damit Eltern ihre fleißigen Kinder für Leistungen belohnen können.
Wer in der chinesischen Mittelschicht Erfolg haben will, muss vor allem die Unterschiede zum Westen kennen. Doch längst nicht alle Bedürfnisse sind so kulturspezifisch. Als Wentaos Mann mit den gebratenen Jiaozi aus der Küche kommt, schimpft er über den Verkehr in Chengdu. „Manchmal“, sagt er, „wünsche ich mir die Zeit zurück, in der alle Fahrrad fuhren. Damals war es wenigstens ruhig.“
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