Zerfallserscheinung beim Islamischen Staat Auf der Suche nach „einsamen Wölfen“

Die Terrororganisation IS ist im Irak und in Syrien unter Druck. Geldverschwendung und Korruption schwächen die Islamisten. Nun fordert die Miliz von ihren Anhängern mehr Attacken gegen Zivilisten im Westen.

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Siegesposen werden immer seltener. Der IS ist auf dem Rückzug. Quelle: Reuters

Tel Aviv Rückschläge in Syrien und im Irak hin oder her: Mit einer neuen Kampfschrift stachelt der IS seine Anhänger zu neuen Terrorattacken „gegen Ungläubige“ an. Alle Nicht-Moslems seien für Heilige Krieger „brauchbare Ziele“, heißt es. Als Schießscheiben angepriesen werden zum Beispiel Geschäftsleute auf dem Weg zur Arbeit, Sportler im Park, Straßenverkäufer oder ein alter Mann, der sich ein Sandwich kaufen will.

Die neue IS-Publikation „Rumiyah“ verherrlicht den Terror und liest sich wie eine Hommage an Mohammed al-Adnani, der Ende August bei einem Luftangriff ums Leben gekommen war und der jetzt als Cover-Boy seinen letzten Auftritt hat.

Adnani war nicht nur IS-Sprecher. Er gehörte dem innersten Führungszirkel des „Kalifats“ an und war für mehrere Terroranschläge verantwortlich. Der Traum des IS sterbe nicht mit dem Tod eines ihrer Anführer, heißt es trotzig im Vorwort des Online-Magazins. In seiner letzten öffentlichen Ansprache hatte al-Adnani westliche Moslems belehrt, dass Angriffe auf Zivilisten „für uns wertvoller und besser“ seien als militärische Erfolge.

Wobei „Rumiyah“, der Name der Publikation, dem Programm des IS entspricht. Das arabische Wort „Rumiyah“ steht für Rom, im radikalen Islam ein Synonym für Christentum, das als Konkurrenz zum Islam empfunden wird.

Wer Rumiyah liest, wird mit fundamentalistisch-religiösen Inhalten überschwemmt. Verherrlicht wird zum Beispiel das Leben nach dem Tod. Einer der Artikel widmet sich der Topographie im Paradies und stützt sich dabei auf alte islamische Schriften. Die IS-Botschaft ist unmissverständlich: „Einsame Wölfe“ sollen im Westen die Verluste des IS im Nahen Osten kompensieren. Denn die Schlachtfelder in Syrien und im Irak sind für den IS schwieriger geworden.

Weil die türkische Grenze für ihn gesperrt ist, muss der IS versuchen, sich über lokale Schmugglerpfade zu versorgen und Waffen oder Rekruten in seine Gebiete zu schleusen. Deshalb wird es für ihn viel mühsamer und teurer als bisher, seine martialische Logistik aufrecht zu erhalten. „Das“, sagt Columb Strack vom militärischen Branchendienst IHS Jane's, „wird die Fähigkeit des IS, als Staat zu funktionieren, empfindlich beeinträchtigen.“


Kampf soll in den Westen verlagert werden

Vor zwei Jahren war der IS sehr schnell expandiert. In den Chaosgebieten des Irak und Syriens hatte er große Gebiete allerdings nur deshalb erobern können, weil er nicht auf namhaften Widerstand gestoßen war. „Das konnte nie nachhaltig sein“, sagt Strack. Seit 2015 muss der IS immer wieder Rückschläge einstecken. „Seine Gegner sind jetzt besser organisiert und effizienter“, meint Strack, was auch auch die Hilfe von externen Sponsoren wie den USA zurückzuführen sei.

Jetzt zeigt sich, dass der IS zu schnell gewachsen ist, um die Expansion zu verkraften. Das Magazin „Daily Beast“ hat diese Woche interne IS-Dokumente publiziert, die gravierende Organisationsprobleme des Terror-Staates enthüllen. Dazu gehören unter anderem ein sorgloser Umgang mit Finanzen, Korruption und Verschwendung sowie bürokratische Grabenkämpfe. Die militärischen Rückschläge und die Misswirtschaft führen zu neuen IS-Prioritäten. Der Kampf gegen den Westen wird zentral.

Der Terror gegen Europa werde weiterhin im Ostteil Syriens organisiert werden, meint Strack. IS-Medien würden auch künftig junge Menschen verführen, wie jetzt in „Rumiyah“. Weil es für den IS zunehmend schwieriger werde, seine Terror-Rekruten aus Europa zum Training nach Syrien zu bringen, könnte er einerseits seine Aktivitäten in Libyen und im Sinai verstärken, wo er bereits operiert. Anderseits richte sich der Fokus jetzt vermehrt auf Jugendliche im Westen, die sich selber radikalisiert haben, meinen Anti-Terror-Experten.

Viele kleine Attentate – zum Beispiel der Kirchenmord unweit von Rouen oder der Axtangriff in einem Würzburger Regionalzug – seien für den IS effizienter als spektakuläre Anschläge wie diejenigen in Paris oder Brüssel, sagt Strack. Mit ihnen soll nämlich den Eindruck erweckt werden, dass die Zahl der IS-Sympathisanten stetig am steigen sei. Um in möglichst vielen Ländern gehört zu werden, wird die 38-seitige IS-Gazette Rumiyah in mehr als einem halben Dutzend Sprachen verbreitet – unter anderem auch auf Deutsch.


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