Zivilisten in Mossul „Wir sind menschliche Schutzschilde“

Sie wollen nur den Klauen des IS entrinnen. Doch bei der Flucht aus der irakischen Millionenstadt Mossul riskieren die Bewohner ihr Leben und ziehen sich oftmals schwere Verletzungen zu, die nur schwer zu behandeln sind.

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Seit Oktober versuchen irakische Streitkräfte, Mossul einzunehmen. Quelle: Reuters

Erbil/Mossul In Issas Brust steckt ein Kugelsplitter, auf dem Röntgenbild ist er gut zu sehen. Der Siebenjährige wurde von einem Heckenschützen angeschossen, als er mit seines Familie aus der Stadt Mossul flüchtete. Sie haben es ins 80 Kilometer entfernte Erbil im kurdischen Teil des Irak geschafft. Dort liegt Issa im Krankenhaus. Den Splitter konnten die Ärzte noch nicht entfernen, aber sein Vater Abdullah ist trotzdem optimistisch. „Dank Gottes Hilfe ist mein Sohn am Leben und wir konnten alle aus dieser Hölle entkommen.“

Im nordirakischen Mossul herrscht seit mehr als zwei Jahren die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die Extremisten kontrollieren vor allem die Stadtviertel im Westen der Stadt, in denen noch geschätzt eine halbe Million Menschen leben. Dort agieren sie mit roher Gewalt.

Seit Oktober versuchen irakische Streitkräfte, Mossul einzunehmen. Die Armee öffnet Fluchtkorridore, damit die Bewohner aus ihren Stadtvierteln entkommen können, aber der IS versucht, dies zu verhindern und die Truppen so am Vormarsch zu hindern.

Die Bewohner stehen vor der Wahl, den Dschihadisten als Schutzschilde zu dienen oder auf der Flucht ihr Leben zu riskieren: Batul Ahmad hat dabei alles verloren. Mit ihrem Mann und zwei Kindern verließ die 40-Jährige durch einen Armeekorridor die Stadt. Viele Frauen und Kinder waren auf der Flucht. „Auf einmal gab es eine große Explosion“, erinnert sie sich mit stockenden Worten. „Es war nur Rauch, als ich wieder zu mir kam. Ich habe nach meinem Mann gerufen. Keine Antwort ... und dann spürte ich die schrecklichen Schmerzen in den Beinen.“

Ihr Mann wurde durch die Mörsergranate getötet, sie verlor ein Bein, ihr Sohn beide. „Wir wollten nur aus der Stadt flüchten ... aber Daesh (der IS) benutzt uns als menschliche Schutzschilde, damit die Armee sie nicht bombardiert“, sagt sie. „Wenn wir fliehen, bestrafen sie uns, indem sie uns umbringen“. Batul Ahmad beginnt zu weinen, will ihren Sohn sehen.


Der Kampf mit dem Tod

Eine Krankenschwester versucht, sie zu beruhigen. „Ruhig. Sie sind in Sicherheit“, murmelt Schwester Renas. Viele der Patienten in dem überfüllten Hospital hätten Alpträume, sagt sie. „Sie rufen nach Familienmitgliedern, die vor ihren Augen umgekommen sind. Ich kann nur versuchen, sie zu beruhigen. Ich fühle ihren Schmerz, als ob es mein eigener wäre.“

Chefpfleger Rauf Mohammed sagt, Hunderte Patienten aus Mossul, die seit Beginn der Militäroffensive in seinem Notfall-Krankenhaus behandelt wurden, hätten alle ähnliche Verletzungen: „Verletzungen durch Granatsplitter oder Schussverletzungen durch Heckenschützen.“

„Warum? Wo ist Gott? Wo?“ - Jasa klammert sich an die blutüberströmten Kleider ihrer Tochter und weint Tränen der Verzweiflung. Ihr Mann Ramasan kann nur hilflos zusehen. In nur einem Augenblick haben sie zwei Töchter verloren. Die 18 Monate alte Enkelin ringt mit dem Tod. Die Drei hatten im Garten gespielt, als ein IS-Sprengsatz explodierte, berichtet Ramasan. Die Dschihadisten attackieren nicht nur flüchtende Zivilisten, sondern auch jene, die in befreite Stadtteile zurückkehren. Vor ihrer Flucht verminten sie die Häuser der Bewohner.

Fälle wie dieser sind zur traurigen Normalität geworden, sagt Rauf Mohammed. Nicht nur hier, sondern in jedem der etwa ein Dutzend Krankenhäuser in Erbil. Seit Oktober haben mehr als 100.000 Menschen aus Mossul in Flüchtlingslagern in den umliegenden Provinzen Schutz vor den Kämpfen gesucht. Im größten von ihnen, Al-Chaser, leben mehr als 30.000 Flüchtlinge. Jeden Tag kommen weitere hinzu.

Friseur Hassan Soran, der sich im Lager etwas Geld mit Haareschneiden verdient, ist wütend auf die Dschihadisten. Zwei Jahre lang habe der IS den Menschen seine Regeln aufgezwungen: Bärte wachsen lassen, fünf Mal am Tag beten, keine Zigaretten rauchen. Wer sich nicht an diese Regeln gehalten habe, sei öffentlich bestraft worden. „Wir hatten nichts zu essen, kein Geld, es gab kein elektrisches Licht, die Hygiene-Bedingungen waren furchtbar und bei Regen waren die Straßen überflutet. Wer will schon so leben?“, beklagt er sich.

Umm Ahmed, die mit ihrem Mann und sechs Kindern geflohen ist, sieht keine Hoffnung auf eine Rückkehr. Im Irak gebe es keine Zukunft mehr für sie. „Wer will schon seine Kinder an einem Ort großziehen, wo es nur Hunger, Armut und Dreck gibt“, sagt sie und blickt zwischen den Zelten von Al-Chaser um sich. „Letztendlich werden wir uns nach Europa oder Amerika aufmachen. Dort liegt unsere Zukunft.“

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