Zwei Jahre nach dem Anschlag Charlie lebt

Anfang 2015 ermordeten zwei Islamisten in Paris Zeichner der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“. Ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit – und Auftakt einer beispiellosen Terrorserie. Doch „Charlie“ geht nicht in die Knie.

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Ein Demonstrant hält einen nachgebildeten Stift mit der Aufschrift „Vive Charlie“ (Es lebe Charlie) hoch. Nach dem Anschlag im Januar 2015 hat die französische Satirezeitung ihren Betrieb nicht eingestellt, sondern konsequent weitergemacht. Quelle: AFP

Paris „Wir haben 'Charlie Hebdo' getötet“, skandierten die beiden Islamisten, nachdem sie ein Blutbad in den Pariser Redaktionsräumen der Satirezeitschrift angerichtet hatten. Doch damit haben die Terroristen sich geirrt. Das Symbol für schonungslose Meinungsfreiheit hat überlebt, das Team des französischen Satiremagazins den rebellischen Geist des Blatts bewahrt. „Charlie“ provoziert weiter, seit kurzem auch auf Deutsch.

Das unterstreichen die Macher auch in einer Sonderausgabe vor dem zweiten Jahrestag der Attacke. „Charlie immer noch am Leben“, heißt es in einer Karikatur – daneben als Reaktion die Aufschreie von Russlands Präsident Wladimir Putin, einem Nazi, einem Bischof und einem Islamisten: „Mist!“

Am 7. Januar 2015 waren die beiden Islamisten Chérif und Said Kouachi in die Redaktion eingedrungen. Sie ermordeten an jenem Tag zwölf Menschen, darunter die bekannten Zeichner Stéphane Charbonnier (Charb), Jean Cabut (Cabu) und Georges Wolinski. „Ein politisches Verbrechen, dessen Ziel es war, Ideen auszulöschen und jene, die sie vertreten haben“, erinnerte der publizistische Leiter Riss in der Sonderausgabe vor dem zweiten Jahrestag.

Während die „Charlie“-Täter noch auf der Flucht waren, ermordete ein weiterer Terrorist eine Polizistin und vier Menschen in einem jüdischen Supermarkt. Innenminister Bruno Le Roux und Bürgermeisterin Anne Hidalgo erinnerten am Donnerstag mit Schweigeminuten an die Opfer jener Tage. Es war der Auftakt zu einer für Frankreich beispiellosen Terrorserie, die das Land verändert hat. Eine Krise, deren langfristige politische Auswirkungen noch längst nicht klar sind.

Im Zuge der immer neuen Schreckensmeldungen ist der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ fast etwas in den Hintergrund getreten. Wenige Tage danach gingen noch Millionen Menschen auf die Straße, um ihre Solidarität auszudrücken. „Je suis Charlie“ (Ich bin Charlie) war der Satz der Stunde, das Land rückte zusammen. Doch nach der Terrornacht von Paris, spätestens aber nach dem Anschlag von Nizza im vergangenen Sommer, bekam die viel beschworene nationale Einheit Risse. Die richtige Strategie im Kampf gegen den Terror ist im laufenden Präsidentschaftswahlkampf ein zentraler Streitpunkt.


„Wir haben vor weiterzumachen.“

Auch für „Charlie Hebdo“ ist der Terror damit ein Dauerthema. Nach dem Anschlag von Berlin titelte die neue deutsche Ausgabe mit der Zeichnung eines Lebkuchenhauses, aus dem Kanonenrohre ragten. „Sie werden unsere Art zu leben nicht verändern“, so der Text dazu. „Die Stimmung bei „Charlie“ war sehr angespannt und gleichzeitig bedrückt“, sagte die deutsche Chefredakteurin Minka Schneider dem Sender n-tv. Es habe das Bedürfnis gegeben, etwas dazu zu machen.

In der letzten Ausgabe des Jahres 2016 rechnete Riss – mit bürgerlichem Namen Laurent Sourisseau – mit Politikern ab, die nach der Flucht des mutmaßlichen Berliner Attentäters Anis Amri nach Grenzkontrollen innerhalb Europas riefen. „Krieg gegen Terroristen gewinnt man nicht mit Grenzen und Kontrollen. Grenzen sind den Terroristen scheißegal“, schrieb er.

Die Redaktion war nach dem Anschlag umgezogen und arbeitet in streng geschützten Räumen, deren Adresse geheim gehalten wird. Riss und andere stehen unter Polizeischutz. „Nicht nur ich, alle bei der Zeitung leben in der Sorge, dass wieder etwas passieren könnte“, sagte Riss vor Kurzem in einem ARD-Interview. Doch trotz des Traumas, des Verlusts wichtiger Kollegen und des zeitweisen internen Gerangels um den Umgang mit Millionen-Einnahmen nach dem Anschlag hat das Blatt seinen frechen Ton bewahrt, der keine Tabus kennt.

Der schwarze Humor sorgt auch immer wieder für Kontroversen, so zuletzt etwa die als respektlos empfundenen Zeichnungen über Opfer eines Erdbebens in Italien. Oder Veröffentlichungen zum Absturz des russischen Militärflugzeuges über dem Schwarzen Meer: Die Zeichnungen seien entwürdigend, empörte sich das Verteidigungsministerium in Moskau. Neben dem Bild eines abstürzenden Flugzeugs hatte es etwa geheißen: „Schlechte Nachricht... Putin war nicht dabei.“

Seit Anfang Dezember können Leser in Deutschland den Stil von „Charlie“ auch ohne Sprachbarriere entdecken. Und dabei feststellen, dass das Blatt neben den bekannten Karikaturen auch lange Texte enthält, mit klarem links-ökologischem Standpunkt. Die Autoren blicken nun auch häufiger nach Deutschland, besuchten etwa vor dem Jahrestag der Kölner Silvesternacht die Domstadt und lieferten eine gezeichnete Reportage aus einer „Stadt ohne Angst“. Ob das Blatt mit seiner ersten Auslands-Ausgabe auch in Deutschland eine Fangemeinde findet, muss sich zeigen. Bislang will das Magazin noch keine Verkaufszahlen veröffentlichen, wie eine Sprecherin sagte.

„Charlie hat gerade seine 1276. Redaktionssitzung absolviert“, schrieb das französische Team am Mittwoch auf Facebook. „Und um euch zu beruhigen, wir haben vor weiterzumachen.“

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