Konfrontiert man die Regierung damit, folgt sogleich der Verweis auf den Krieg im Osten. Dabei fällt auf, dass die Branchen mit einer starken Lobby von Belastungen weithin ausgenommen sind: die Einkommensteuer wird erhöht, was den kleinen Mann trifft – aber für die Agrarindustrie gilt die Gewinnsteuer nicht. Branchen, in denen Oligarchen wie Rinat Achmetow aktiv sind, bleiben trotz der fiskalischen Misere von Steuererhöhungen verschont. Nur die Kriegssteuer, mit der die militärische Offensive gegen die prorussischen Rebellen im Osten finanziert werden soll, trifft sämtliche Unternehmer. „Die melken auch Kühe, die längst tot sind“, sagt ein Unternehmer mit Blick auf die vielen kleinen Betriebe, die in großem Stil Mitarbeiter entlassen müssen.
Trotz des hörbaren Rumorens in Kiewer Wirtschaftskreisen stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) der Regierung ein positives Zeugnis aus. Die ersten Tranchen der bis 2015 versprochen Hilfskredite über 17 Milliarden Dollar wurden ausgezahlt, da die Regierung die Vorgaben aus Washington brav umgesetzt hat: Die Wechselkurse sind freigegeben, die Energiepreise werden angehoben, das Budget wird gekürzt. Sogar die Gaspreise für Verbraucher wurden erhöht, was in der Ukraine lange Zeit ein Politikum war. „Die fiskalische Lage hat sich stabilisiert, die Regierung haushaltet momentan recht gut“, sagt Ricardo Giucci von der Deutschen Beratergruppe, der die ukrainische Regierung im Auftrag der Bundesregierung makroökonomisch berät.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Damit verbundene Härten muss allerdings die lokale Wirtschaft abfedern. Allein im zweiten Quartal ist die Wirtschaft um 4,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen – nach 1,1 Prozent im ersten Quartal. Es wäre fast ein Wunder, wenn der Rückgang der Wirtschaftsleistung auf 6,5 Prozent begrenzt werden könnte, so wie es Experten des IWF zuletzt ausgerechnet hatten. Vielmehr werden erst im dritten Quartal die Kosten des Krieges in der Ostukraine zu Buche schlagen: Ein Großteil der Eisenbahnanlagen ist dort zerstört, in vielen Städten liegt die Strom- und Wasserversorgung brach. In den Gebieten Donezk und Lugansk, die in normalen Jahren 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, ging die Industrieproduktion in fast allen Branchen um mehr als die Hälfte zurück – und sei es, weil die Mitarbeiter wegen der ständigen Kriegswirren nicht zur Arbeit erschienen sind.
Wirtschaftslage könnte vor Gaskrieg retten
Paradoxerweise könnte die miserable Wirtschaftslage dazu führen, dass ein Gaskrieg mit Russland verhindert wird: Weil die Industrie wegen der Wirtschaftslage kaum Gas nachfragt, könnten die eigenen Reserven der Ukraine und Importe aus Europa ausreichen, um das Land über den Winter zu bringen – ohne russischen Gasvertrag. Auch „wenn sich die Ukraine und Russland auf einen neuen Vertrag einigen könnten, wäre das kein Budgetproblem, da der IWF einen angemessenen Gaspreis bei der Berechnung der nötigen Hilfskredite eingerechnet hat“, sagt Ukraine-Experte Giucci.