Beginnt es wieder von vorn, das korrupte Spiel der Intrigen und Enteignungen, das die Ukrainer so furchtbar leid sind? Den Eindruck hatten Mitarbeiter des Kiewer Flugzeugbauers Antonow, als neulich mehrere Muskelmänner in der Tupolew-Straße auftauchten. An den Drehkreuzen und Wachleuten vorbei eskortierten sie Sergej Marenkow bis hinauf ins Chefbüro. Der frühere Antonow-Ingenieur erklärte sich zum Leiter des staatlichen Unternehmens und wedelte mit Papieren des ukrainischen Wirtschaftsministeriums, in denen das geschrieben steht. Bei Antonow spricht man von einer „Raider-Attacke“, wie man in Osteuropa feindliche Übernahmen mithilfe korrumpierter Behörden nennt. Dort ist das Alltag.
Jetzt streiten Juristen über den Auftritt. Der Stabwechsel war bereits im Mai angekündigt worden, im Juni ging die Belegschaft des Herstellers von Fracht- und Militärmaschinen für ihren Präsidenten Dmytro Kiwa vor dem Regierungssitz auf die Straße. Man wittert ein Komplott: Während sich der alte Chef für eine engere Zusammenarbeit mit Europa ausspricht, will Marenkow die Kooperation mit Russland wiederherstellen. Zudem soll Letzterer mit dem Clan des im Februar geschassten Präsidenten Viktor Janukowitsch in Kontakt stehen. Andererseits gibt es Gründe für einen Management-Wechsel, schließlich hat das Kiewer Werk in fünf Jahren mit 13.500 Beschäftigten nur 15 Flugzeuge gebaut.
Was nach dem Krieg kommt, weiß keiner
Egal, wer hier recht behält: Vielen Ukrainern schwant zurzeit, dass die Hoffnungen der Maidan-Bewegung enttäuscht werden könnten. Nach blutigen Protesten im Winter war es den Demonstranten zwar mit zweifelhaften Methoden gelungen, das alte korrupte Regime zu stürzen. Doch die Interimsregierung, die seither an der Macht ist, kann noch keine großen Erfolge vorweisen. „Bislang sehe ich nicht, dass die Regierung aktiv gegen die Korruption vorgeht“, sagt Jurist Dmytro Schulga. Er arbeitet für die von US-Milliardär George Soros finanzierte Kiewer International Renaissance Foundation. Ökonom Vitali Krawtschuk vom Center for Economic Studies sagt: „Ein konkretes Programm für Wirtschaftsreformen gibt es noch nicht.“ Agrarinvestor Alex Lissitsa fügt hinzu: „Alle beschäftigen sich mit dem Krieg im Osten. Aber was danach kommt, weiß keiner.“
Chronologie - Dramatische Tage auf der Krim
Schon lange ist die Krim zwischen Russen und Ukrainern umstritten. Seit dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch am 22. Februar haben sich die Spannungen auf der überwiegend von Russen bewohnten Schwarzmeer-Halbinsel dramatisch verschärft. Ein Rückblick:
Wenige Tage nach dem Umsturz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew geraten auf der Krim Anhänger und Gegner einer Annäherung an Russland aneinander. Tausende Krimtataren demonstrieren gegen eine Abspaltung der autonomen Republik. Prorussische Demonstranten fordern die engere Anbindung an Moskau.
Bewaffnete besetzen Regionalparlament und Regierungsgebäude in der Hauptstadt Simferopol - um die russische Bevölkerung auf der Krim zu verteidigen, wie sie sagen. Das prorussische Krim-Parlament spricht sich für eine Volksbefragung über die Autonomie der Region im Mai aus und setzt die Regierung ab.
Eine bewaffnete prorussische Gruppe besetzt kurzzeitig den Flughafen der Hauptstadt. Das ukrainische Parlament appelliert an Moskau, alles zu unterlassen, was die territoriale Einheit des Landes gefährde. Nach ukrainischen Berichten sind auf der Krim russische Militärmaschinen mit rund 2000 Soldaten gelandet. Interimspräsident Alexander Turtschinow spricht von einer „militärischen Invasion“ unter dem Deckmantel einer Übung.
Der moskautreue neue Krim-Regierungschef Sergej Aksjonow übernimmt vorübergehend die Befehlsgewalt und bittet Kremlchef Wladimir Putin um Beistand. Er zieht das Referendum über die Zukunft der Krim auf den 30. März vor. Die russische Staatsduma ruft Putin auf, der neuen Regierung auf der Krim Beistand beim Schutz der Bürger zu leisten. Die prorussische Krim-Regierung und die auf der Halbinsel stationierte russische Schwarzmeerflotte vereinbaren eine Zusammenarbeit bei der Sicherung der öffentlichen Ordnung. In mehreren russisch geprägten Städten der Schwarzmeer-Halbinsel gibt es Proteste gegen die Regierung in Kiew.
Putin erklärt, Russland könne bei weiterer Gewalt gegen die russischsprachige Bevölkerung „nicht tatenlos zusehen“. In Kiew ordnet Interimspräsident Alexander Turtschinow die volle Kampfbereitschaft der ukrainischen Armee an und droht, eine Intervention Moskaus werde „der Beginn eines Krieges und das Ende aller Beziehungen sein“.
Das ukrainische Parlament, die Oberste Rada, berät in nicht-öffentlicher Sitzung über die heikle Lage. Die sieben führenden Industrienationen der Welt (G7) setzen alle Vorbereitungstreffen für den G8-Gipfel mit Russland im Juni in Sotschi aus. US-Präsident Barack Obama und Kanzlerin Angela Merkel werfen Russland vor, mit der Intervention auf der Krim gegen das Völkerrecht zu verstoßen.
Auf der Krim herrscht gespannte Ruhe. Russland lehnt die Entsendung einer Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in die Ukraine ab. Außenminister Sergej Lawrow sagt, es gehe Moskau um die „Frage der Verteidigung unserer Bürger und Landsleute“. Die EU-Außenminister beraten bei einer Krisensitzung in Brüssel über die Lage auf der Krim.
Krieg hin oder her – die Menschen in der Hauptstadt werden ungeduldig. Das gilt für die Unternehmer ganz besonders. Es ist ein schwülwarmer Freitag, als die European Business Association (EBA) im Fairmont Hotel am Ufer des Dnjepr zu einem Treffen mit dem Justizminister einlädt. Der lässt sich kurzfristig entschuldigen und schickt einen Stellvertreter, der eigentlich nichts sagen kann – und sich im wahrsten Sinne des Wortes grillen lassen muss. „Ihr habt den Kampf gegen Korruption versprochen, aber wir sehen keine Resultate!“, schimpft einer. „Warum sitzt immer noch kein korrupter Beamter hinter Gittern?“, fragt ein anderer.
Angst vor staatlicher Willkür
Selten erlebt man eine derart vergiftete Atmosphäre, wenn Politik und Wirtschaft aufeinandertreffen. In der Ukraine liegt das an der Angst, dass sich die neue Regierung wie die letzten drei zuvor die Taschen zulasten der Unternehmer vollstopft – und Zöllner, Steuerfahnder oder Lebensmittelkontrolleure unter fadenscheinigen Gründen Schmiergelder erpressen. Derlei Willkür war man einstweilen ausgeliefert, weil die Justiz käuflich ist und Politiker meist irgendwie mitverdienten. Der Mittelbau des Beamtenapparats, der das wuchernde System der Selbstbereicherung trug, ist auch unter der neuen Regierung noch im Amt. Zudem wurde ein Antikorruptionsgesetz kräftig geschleift, was in der Öffentlichkeit für großen Aufruhr sorgte.
"Die melken auch Kühe, die längst tot sind"
Konfrontiert man die Regierung damit, folgt sogleich der Verweis auf den Krieg im Osten. Dabei fällt auf, dass die Branchen mit einer starken Lobby von Belastungen weithin ausgenommen sind: die Einkommensteuer wird erhöht, was den kleinen Mann trifft – aber für die Agrarindustrie gilt die Gewinnsteuer nicht. Branchen, in denen Oligarchen wie Rinat Achmetow aktiv sind, bleiben trotz der fiskalischen Misere von Steuererhöhungen verschont. Nur die Kriegssteuer, mit der die militärische Offensive gegen die prorussischen Rebellen im Osten finanziert werden soll, trifft sämtliche Unternehmer. „Die melken auch Kühe, die längst tot sind“, sagt ein Unternehmer mit Blick auf die vielen kleinen Betriebe, die in großem Stil Mitarbeiter entlassen müssen.
Trotz des hörbaren Rumorens in Kiewer Wirtschaftskreisen stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) der Regierung ein positives Zeugnis aus. Die ersten Tranchen der bis 2015 versprochen Hilfskredite über 17 Milliarden Dollar wurden ausgezahlt, da die Regierung die Vorgaben aus Washington brav umgesetzt hat: Die Wechselkurse sind freigegeben, die Energiepreise werden angehoben, das Budget wird gekürzt. Sogar die Gaspreise für Verbraucher wurden erhöht, was in der Ukraine lange Zeit ein Politikum war. „Die fiskalische Lage hat sich stabilisiert, die Regierung haushaltet momentan recht gut“, sagt Ricardo Giucci von der Deutschen Beratergruppe, der die ukrainische Regierung im Auftrag der Bundesregierung makroökonomisch berät.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Damit verbundene Härten muss allerdings die lokale Wirtschaft abfedern. Allein im zweiten Quartal ist die Wirtschaft um 4,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen – nach 1,1 Prozent im ersten Quartal. Es wäre fast ein Wunder, wenn der Rückgang der Wirtschaftsleistung auf 6,5 Prozent begrenzt werden könnte, so wie es Experten des IWF zuletzt ausgerechnet hatten. Vielmehr werden erst im dritten Quartal die Kosten des Krieges in der Ostukraine zu Buche schlagen: Ein Großteil der Eisenbahnanlagen ist dort zerstört, in vielen Städten liegt die Strom- und Wasserversorgung brach. In den Gebieten Donezk und Lugansk, die in normalen Jahren 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften, ging die Industrieproduktion in fast allen Branchen um mehr als die Hälfte zurück – und sei es, weil die Mitarbeiter wegen der ständigen Kriegswirren nicht zur Arbeit erschienen sind.
Wirtschaftslage könnte vor Gaskrieg retten
Paradoxerweise könnte die miserable Wirtschaftslage dazu führen, dass ein Gaskrieg mit Russland verhindert wird: Weil die Industrie wegen der Wirtschaftslage kaum Gas nachfragt, könnten die eigenen Reserven der Ukraine und Importe aus Europa ausreichen, um das Land über den Winter zu bringen – ohne russischen Gasvertrag. Auch „wenn sich die Ukraine und Russland auf einen neuen Vertrag einigen könnten, wäre das kein Budgetproblem, da der IWF einen angemessenen Gaspreis bei der Berechnung der nötigen Hilfskredite eingerechnet hat“, sagt Ukraine-Experte Giucci.
Das Überangebot schadet auch kleinen Bauern
Investitionen in die ukrainische Wirtschaft liegen dennoch brach. Zumal Unternehmen oft unter hohen Überkapazitäten leiden. So wie die Agrarholding IMC Agro von Alex Lissitsa: „Für Güter wie Milch und Fleisch bricht uns der russische Markt weg, wobei der EU-Markt für ausländische Erzeugnisse geschlossen ist“, sagt der Unternehmer. Zwar habe er vor Jahren begonnen, sich von Russland nach Europa umzuorientieren – „aber jetzt muss die EU uns helfen, indem sie ihre Märkte öffnet“. Wobei nicht nur Großbauern wie Lissitsa von diesem Problem betroffen sind: Das Überangebot von Produkten wie Milch verdirbt im Inland auch den Kleinbauern auf den Dörfern die Preise. Die müssen mit ihren Erlösen aus dem Milchverkauf keine Aktionäre befriedigen, sondern ihre Familien ernähren. Da den EU-Landwirten wegen Putins Gegen-Sanktionen aber selbst ein großer Markt wegbricht, ist an eine Marktöffnung für die Ukraine nicht zu denken.
Derweil vermisst Lissitsa in der Ukraine eine klare Politik: Das Land brauche jetzt ein Investitionsprogramm und einen Plan, welche Rolle die Ukraine für sich in der europäischen Wirtschaft sieht – ob als Agrarland, Outsourcing-Standort oder Dienstleister für Europas IT-Wirtschaft. „Jetzt sind alle bereit, Opfer zu erbringen.“ Tatsächlich leiden aber Investoren in all den genannten Sektoren: Programmierer in Diensten westlicher Unternehmen haben ihre Kapazitäten heruntergefahren, da sie meist im Osten sitzen, wo Krieg herrscht. Autoteile-Lieferanten nutzen zwar die Billiglöhne im Westen, um für VW und Audi zu produzieren – aber immer mehr Auftraggeber betrachten die Ukraine insgesamt als Risikoland und bestellen anderswo, obwohl der Westen vom Krieg nicht betroffen ist.
Einzig Sven Henniger hat gut zu tun – mit Restrukturierungen. Er leitet Ukraine Consulting, ein deutsches Beratungsunternehmen in Kiew, das Steuer- und Rechtsdienstleistungen anbietet. „Viele Kunden ziehen sich zurück oder verkleinern ihr Team“, sagt Henniger. „Aber glauben Sie nicht, dass mir diese Aufgaben Freude machen.“ Schließlich sei er vor sechs Jahren in die Ukraine gekommen, um Investoren beim Markteintritt zu beraten. „Die Ukraine könnte über zehn Jahre um zehn Prozent wachsen wie früher Polen oder Tschechien“, so Henniger – aber nur, wenn die Rechtssicherheit verbessert und die Korruption bekämpft werde. Solange aber im Osten ein Krieg tobt, ist das Land von solch einem Boom Lichtjahre entfernt.