Mindestlohn Der Drei-Euro-Vorteil

Ein Mindestlohn, behaupten Gewerkschafter, würde keine Kunden zum Friseur ins Ausland treiben. Wirklich nicht? Ein Besuch in Polen.

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Am Tag, als die Grenze nach Deutschland geöffnet wurde, rupfte Wladyslawa Stefanowicz die Rosenstöcke aus ihrem Vorgarten. Auf das leere Blumenbeet neben ihrem Haus stellte sie einen Baucontainer, fräste ein Loch für ein Schaufenster hinein und schraubte ein Schild neben die Tür: „Friseursalon Damen und Herren. Caffee gratis“, steht darauf. Wo Wladyslawa Stefanowicz einst ihre roten Rosen schnitt, lässt sie nun frisieren, toupieren und ondulieren. Inzwischen arbeiten drei Friseurinnen für die Chefin, und täglich stehen die Kunden Schlange. Wladyslawas Salon hat einen großen Standortvorteil: Er liegt kaum einen Steinwurf hinter der Oder, die Deutschland und Polen trennt, und gehört damit zu einem ganz besonderen Dorf: 52 Häuser gibt es in Osinów Dolny mit genau 35 Friseursalons, eingerichtet in Garagen, in Containern und in Wohnzimmern. Wladyslawa ist die Ortsvorsteherin dieses Dorfes, die „Soltys“, wie ihre Nachbarn sagen. Bei der Wahl vor fünf Jahren bekam sie 51 von 53 abgegebenen Stimmen. „Weil Friseure am liebsten Friseure wählen“, sagt sie. Für ihr Handwerk werben die Salons „Martek“, „Maria“, „Halina“ oder „Ada“ mit handgeschriebenen Tafeln an der Hauptstraße. „Parking Gratis, Coffee Gratis. Billig“, steht darauf. Oder noch präziser: „Sehr billig“. Ein Herrenhaarschnitt kostet hier drei Euro, ein Damenschnitt acht Euro, eine Dauerwelle 17 Euro. In Deutschland sind die Preise meist dreimal so hoch. Und so drängeln die Autos mit Berliner oder Eberswalder Kennzeichen täglich im Schritttempo über die Oderbrücke gen Polen. Osinów Dolny, das Dorf der Friseure, ist ein ökonomisches Lehrstück, wenn es um das umstrittenste Thema in der großen Koalition geht: den Mindestlohn. Am 18. Juni treffen sich die Spitzenpolitiker von SPD und Union erneut, um eine Lösung zu finden. Die SPD dringt auf die Einführung von Mindestlöhnen, kategorisch. Die Union lehnt das eigentlich ab, kann sich inzwischen aber Kompromisse vorstellen. Wenn es keine Einigung gibt, dann drohen die Sozialdemokraten damit, den Mindestlohn in den nächsten Landtagswahlkämpfen zum wichtigsten Thema aufzublasen. Wie viel Lohn zum Beispiel ein Friseur nach Hause bringt – oder nach Hause bringen sollte – ist zum Politikum geworden. Seit Monaten fordern die Gewerkschaften einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro in der Stunde. Eine Friseurin in Brandenburg verdient kaum mehr als vier Euro in der Stunde und eine in Thüringen sogar nur drei. Mit Trinkgeld und Umsatzbeteiligung erhöhen sich die Stundenlöhne auf fünf bis sechs Euro, wie Friseure erzählen. Zum Leben sei das zu wenig, meinen die Gewerkschafter, und die Kunden blieben ihrem Friseur ohnehin ewig treu. „Niemand kann mir erzählen, dass Menschen deswegen in Polen ihre Haare schneiden lassen, weil es dort billiger ist“, sagt Michael Sommer, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Schließlich sei die Fahrt nach Polen allemal teurer als die Ersparnis beim Friseur. Osinów Dolny ist der Beweis des Gegenteils. 1,32 Euro pro Stunde beträgt der gesetzliche Mindestlohn in Polen. Eine Friseurin, die flink mit der Schere umgeht, könne jedoch leicht drei Euro in der Stunde verdienen, rechnet Wladyslawa Stefanowicz vor. In ihrem Salon und in den meisten anderen im Dorf bekommen die Friseurinnen ohnehin kein festes Gehalt, sondern Anteile am Umsatz: 25 Prozent von jedem Damenhaarschnitt und 40 Prozent von jedem Männermodell. Und weil die Löhne niedrig sind, sind die Preise billig und die Salons stets voll mit Kunden. Ökonomen warnen daher davor, nun in Deutschland künstliche Lohnuntergrenzen einzuziehen. „Hände weg vom Mindestlohn“, sagt der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz. Der Mindestlohn vernichte Arbeitsplätze und erreiche nicht das Ziel seiner Befürworter, die deutschen Arbeitnehmer vor Konkurrenz aus den EU-Beitrittsländern zu schützen. Zollexperten, die den polnischen Markt nahe der deutschen Grenze untersuchen, haben eine Daumenregel entwickelt: Danach lohnen sich der Billig-Einkauf und der Billig-Haarschnitt hinter der Grenze für deutsche Kunden dann, wenn sie dafür nicht viel weiter als 60 Kilometer reisen müssen. Und genau 60 Kilometer entfernt von Osinów Dolny liegt die Metropole Berlin mit 3,4 Millionen potenziellen Kunden. Friedrich Bogatke zum Beispiel fährt alle zwei Monate aus Berlin nach Polen – zum Haareschneiden. „Zu Hause zahle ich für einen Schnitt neun Euro. Dafür kann ich in Polen dreimal zum Friseur gehen“, sagt der Rentner. Jetzt hockt er auf einem blauen Plastik-Stühlchen im Salon von Wladyslawa Stefanowicz und wartet auf seinen Drei-Euro-Schnitt. Raspelkurz, einmal rund um den Schädel rasiert, da kann nichts schiefgehen. Seiner Gattin allerdings, die neben ihm auf eine Dauerwelle wartet, ist die Anspannung anzusehen. Zur Sicherheit hat sie aus einer Frauenzeitschrift ein Foto mitgebracht. Mit dem Zeigefinger tippt sie auf ihre Wunsch-Locke, rasant geschwungen und rot getönt. Friseurin Jola nickt verständig. Sie spricht kaum deutsch, Frau Bogatke nicht polnisch. „Momentschik“, sagt Jola, bevor sie die Lockenwickler holt. Zwei Stunden später brechen Herr und Frau Bogatke, frisch frisiert und gut gelaunt, zu einem Einkaufsbummel über die Märkte von Osinów Dolny auf, kaufen Strauchrosen zu zwei Euro pro Stück, ein Pfund Spargel für 80 Cent und Ersatzteile für das Auto. „Wir haben nichts zu verschenken“, sagt Friedrich Bogatke. Und das ist für Osinów Dolny inzwischen ein Problem. „Wir finden nicht mehr genug Friseure“, klagt Ortsvorsteherin Wladyslawa Stefanowicz. Normalerweise dauert eine Friseurausbildung in Polen drei Jahre, genau wie in Deutschland. Doch das Arbeitsamt in Chojna, dem nächstgrößeren Ort, schult seine Problemkunden inzwischen in Schnellkursen zu Coiffeuren für Osinów Dolny um. Waschen, schneiden, legen – alles erlernbar in drei Monaten.

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