100 Tage Grün-Schwarz in Baden-Württemberg Von wegen typisch grün

Grüne sind Vegetarier, und CDU-Politiker trinken Bier? Es gibt zwar kulturelle Unterschiede zwischen den Parteien. Aber in der bundesweit ersten grün-schwarzen Regierung fällt gerade so manches Vorurteil.

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2. Mai 2016: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen, M) und CDU-Fraktionschef Guido Wolf stellen den Koalitionsvertrag vor. Das gemeinsame Regieren ist für die Parteien anders als erwartet. Quelle: dpa

Stuttgart Beim ersten Sondierungsgespräch mit der CDU wollten die Grünen in Baden-Württemberg alles richtig machen: Für das Treffen am späten Nachmittag stellten sie Bier kalt – in der Annahme, dass CDU-Politiker gerne Bier mögen. Doch kein CDU-Mensch griff zu. „Wir haben das Bier dann später alleine getrunken“, erzählt Grünen-Landeschef Oliver Hildenbrand mit einem Schmunzeln. Heute regiert in Baden-Württemberg die erste grün-schwarze Landesregierung – trotz tatsächlicher und vermeintlicher kultureller Unterschiede.

Wie weit Grüne und CDU in manchen Bereichen voneinander entfernt sind, zeigte ein Zwist im Juni um das sogenannte Gendersternchen. Das Social-Media-Team der Landesregierung schrieb in Twitter von „Bürger*innen“. Die CDU Baden-Württemberg twitterte erbost zurück: „Lassen Sie bitte die Genderschreibweise in Landesregierungs-Tweets!“ Einige in der CDU fühlen sich von dem Sternchen genervt. Den Grünen ist eine geschlechtergerechte Sprache wichtig.

Ohnehin: die Sprache. Der sperrige Begriff LSBTTIQ, der Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle, Intersexuelle und Queere umfasst, kommt CDU-Politikern nur schwer über die Lippen. Umgekehrt bemerkte Kretschmann zur CDU: „Die Unionsleute reden sehr robust über innere Sicherheit.“ Die Grünen – sie hatten deutschlandweit noch nie das Innenressort inne – seien hingegen darauf bedacht, die bürgerliche Freiheit nicht einzuschränken.

Manche Unterschiede sorgen aber lediglich für Schmunzeln. Viel Heiterkeit bei den Grünen löste etwa die Party zum 60. Geburtstag von CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart aus. Dort trat Schlagersänger Tony Marshall auf. Und manche Grüne berichten, dass die Arbeitskommunikation mit den Kollegen der CDU „mindestens eine Krawatte formeller“ sei, als die Grünen es gewohnt seien. „Da wird kein Doktortitel ausgelassen.“ Aus der CDU heißt es hingegen über die Grünen, dass diese nicht ganz so gesellig seien wie sie selbst und bei Festen am Abend weniger Sitzfleisch hätten.


Die Zeit der Latzhosen ist vorbei

Dass die Zeit von Latzhosen und Strickpullis bei den Grünen lange vorbei ist, wissen auch CDU-Politiker, schließlich sitzt man schon jahrelang zusammen im baden-württembergischen Landtag. Und die Grünen im Südwesten waren schon immer ein Stück pragmatischer und bürgerlicher als ihre Partei im Bund. Die Grünen, von denen man eher vermute, dass sie Vegetarier seien, griffen am Buffet oft ebenso gerne zum Fleisch wie CDU-Politiker, heißt es aus den Reihen der Schwarzen. „Und Grüne stehen mitunter auch auf schnelle Autos.“

Für echte Verwunderung sorgte aber bei CDU-Ministern, dass in den von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) geführten Kabinettssitzungen kaum debattiert wird. Das hatten sie bei einem grünen Regierungschef anders erwartet. Kretschmann will strittige Themen in den Vorrunden zum Kabinett oder im Koalitionsausschuss klären. Manche in der CDU glauben bei den Grünen eine „Basta“-Politik zu erkennen, die früher der eigenen Partei vorgeworfen wurde. „Die Grünen sind unglaublich stark auf Kontrolle bedacht“, heißt es.

Die auf Drängen der Grünen verfassten geheimen Nebenabreden zum grün-schwarzen Koalitionsvertrag entwickeln sich gerade vor allem für Kretschmann zum Problem. Am Wochenende wurde nach Recherchen der „Südwest Presse“ ein zweites Geheimpapier öffentlich, in dem Grüne und CDU geplante Einsparmaßnahmen festgehalten haben. Ein erstes Papier hatte bereits im Juli für viel Wirbel gesorgt. Denn es sind gerade die Grünen, die sich Transparenz und Offenheit auf die Fahnen geschrieben haben. Kretschmann rechtfertigt die Nebenabreden damit, dass sie helfen sollen, Streit in der Koalition zu vermeiden.

Ein echtes Hindernis für das gemeinsame Regieren ist das alles aber nicht. „Die Kommunikation funktioniert erstaunlich gut. Wir begegnen uns eben formell korrekt und diskutieren an der Sache orientiert“, heißt es bei den Grünen. Und Vize-Regierungschef Thomas Strobl (CDU) sagt: „Es gibt Unterschiede – und die wollen wir auch gar nicht verwischen.“ Er räumt ein: „Manches, was wir bei der inneren Sicherheit tun, ist für die Grünen ein echt schwerer Brocken. Aber wir haben es gemeinsam im Koalitionsvertrag vereinbart, wir setzen es gemeinsam um.“ Die Kultur des Zusammenarbeitens in der Koalition sei jedenfalls sehr gut, stellt Strobl fest: „Das ist vertrauensvoll und konstruktiv, das ist sehr professionell.“

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