20 Jahre Mauerfall Deutschland einig Flickenteppich

Vergesst die Normierung der Lebensverhältnisse! 20 Jahre nach dem glücklichen Zusammenbruch der DDR lässt sich nicht mehr entscheiden, ob das Leben im Westen oder Osten Deutschlands besser oder schlechter ist als das Leben im Osten oder Westen. Von WirtschaftsWoche-Chefreporter Dieter Schnaas.

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Flickenteppich Deutschland: Armutsquote (Klicken Sie auf die Grafik für eine erweiterte Ansicht) Quelle: Sebastian Hänel für WirtschaftsWoche

Zahlen lügen nicht. Aber sie sagen immer nur die halbe Wahrheit. Glaubt man ihnen, ist Deutschland nach wie vor geteilt, faktisch zerfallen in Ost und West, in alte und in neue Bundesländer, was die Kinderbetreuung anbetrifft, das Demokratieverständnis, das Heirats- und das Wahlverhalten, den Arbeitsmarkt, die Wirtschaftsleistung, die Produktivität, die Löhne und die Industriestruktur. Es ist ein Land, das sich mit Verweis auf die Statistik und deutlich erhobenem Zeigefinger noch immer einen Ostbeauftragten hält und Solidarzuschläge erhebt, ein Land der Bundesergänzungszuweisungen und des institutionalisierten Finanzausgleichs; ein Land, in dem noch immer die datenunterfütterten Vorurteile blühen, hüben wie drüben, von den gemütsarmen Marktwirtschafts-Athleten im Westen und den tropfabhängigen Sozialstaats-Pyknikern in der Ostalgiezone – 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Das Geldvermögen der Deutschen klafft weit auseinander

Jeder weiß, dass der Osten nach wie vor schrumpft und kränkelt, dass er anders wählt, mehr Erwerbslose zählt – und dass die Einkommen dort geringer sind. Die Wirtschaft in Ostdeutschland ist noch immer zu kleinteilig und zu schwach, um sich selbst zu tragen. Nur jeder fünfte Ostdeutsche ist in Betrieben mit mehr als 500 Mitarbeitern beschäftigt, in Westdeutschland fast jeder Zweite. Weniger als zehn Prozent der „Made in Germany“-Produkte sind ostdeutscher Herkunft. Die durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste in Industrie und Handel liegen im Westen (3309 Euro) mehr als 40 Prozent über denen im Osten (2295).

Das Bruttoinlandsprodukt, das jeder Hesse (36.382) und Bayer (35.530) erwirtschaftet, übertrifft um 60 Prozent das, was jeder Sachse (22.620) oder Brandenburger (21 721) ranschafft. Entsprechend klafft das Geldvermögen der Deutschen weit auseinander: Eine Familie in Magdeburg hat im Schnitt nur drei Fünftel dessen auf dem Konto, was eine Familie in Mönchengladbach ihr Eigen nennt.

Selbstverständlich sieht sich mit Blick auf solche Zahlen auch die neue Bundesregierung in der politisch korrekten Pflicht, die Mittelzusagen aus dem Solidarpakt II einzuhalten, um die Lebensverhältnisse in Deutschland bis 2019 weitgehend anzugleichen. Anders gesagt: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) sind sich einig darin, die pompösen Luftschlösser der ökonomischen Gleichheit, die Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) in den bundesdeutschen Einheitshimmel gezaubert haben, zu erweitern und auszubauen – und die zunehmend bedrängende Wirklichkeit gründlich verschiedener Lebensstandards in ganz Deutschland dabei konsequent zu ignorieren.

Offensichtlich will die Politik nicht einsehen, dass die Normierung des Existenzniveaus einerseits eine Illusion ist, die vor allem sie selbst aus nationalhygienischen und sozialpsychologischen Gründen aufrechterhält – und dass sich die Annäherung der Lebensverhältnisse andererseits längst vollzieht, wenn auch kreuz und quer zur Demarkationslinie, die einst die DDR von der BRD trennte.

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