20 Jahre Mauerfall Mitten am Rand der innerdeutschen Grenze

Nirgendwo an der innerdeutschen Grenze waren sich Ost und West so nah wie im Werratal: 20 Jahre nach dem Mauerfall sind Nordhessen und Thüringer wirtschaftlich Konkurrenten, die mehr verbindet als trennt.

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Großburschla in Thüringen. Zu DDR-Zeiten eine Enklave im Sperrgebiet Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Bernd Rosenbusch ist verrufen in Treffurt. Der CDU-Bürgermeister, der seit der Wende die thüringische Kleinstadt regiert, duldet keinen Schmutz in der Öffentlichkeit. Die drei Mitarbeiter des Ordnungsamts sind täglich auf Kontrollgängen unterwegs. Wer seine Straße nicht ordentlich kehrt, muss mit einer Ermahnung rechnen.

Denn Treffurt soll von Jahr zu Jahr schöner werden, eine Perle der Deutschen Fachwerkstraße. Nicht nur durch den Denkmalschutz, auch durch die Pflege seiner Anwohner. Der Bürgermeister ist stolz darauf, dass man dem Ort seine DDR-Vergangenheit nicht mehr ansieht. Treffurt ist eine von 18 ausgewählten thüringischen Kommunen, die durch das Städtebauförderungsprogramm besonders gefördert werden. Das Städtchen, das auf eine gut 900-jährige Geschichte zurückblickt, profitiert davon, dass unter dem SED-Regime wegen des chronischen Mangels an Baustoffen nur wenige Gebäude abgerissen oder modernisiert wurden.

Unabsehbare Entwicklung

Anders als in vielen westdeutschen Kleinstädten blieb die historische Bausubstanz, das kleinteilig-architektonische Gefüge, erhalten. Unter hässlichem Kratzputz kam bei den Sanierungsarbeiten filigranstes Fachwerk zum Vorschein. Der Ortskern um das Renaissance-Rathaus gleicht heute einer historischen Puppenstube. Die Autos prasseln über bucklig-pittoreskes Muschelkalkpflaster oder gleiten über glattesten Asphalt.

Eine Entwicklung, über die man sich in Wanfried, einem Städtchen mit 4400 Einwohnern, das gerade mal zehn Kilometer weiter westlich in Nordhessen liegt, mitunter die Augen reibt. Sagten die Treffurter noch unmittelbar nach der Wende: Wir wollen auch so schöne Häuser und Straßen haben wie in Wanfried, haben manche Wanfrieder inzwischen das Gefühl, von den Treffurtern überholt worden zu sein – mit besseren Straßen, schmuckeren Fassaden, besserem Telefonnetz.

Löhne 20 Prozent unter hessischem Niveau

Was die Thüringer gern als hessischen Neidkomplex abtun, hat dennoch einen wahren Kern: Die einst bestbewachte Grenze der Welt, vor 20 Jahren offiziell historisch zu den Akten gelegt, ist immer noch präsent – mit umgekehrten Vorzeichen. Verkehrte Welt, zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung – dank eines Förderungsgefälles zwischen Hessen und Thüringen. Musste doch der Werra-Meißner-Kreis in Nordhessen nach der Wende den Wegfall der Zonenrandförderung verkraften. Und zugleich hinnehmen, dass in der thüringischen Nachbarschaft höhere Förderungsquoten galten und die Löhne niedriger waren als im Westen.

Mit der Grenzöffnung spürten demnach nicht nur die einstigen ostdeutschen Produktionsgenossenschaften und volkseigenen Betriebe den rauen Wind der Marktwirtschaft – die Zigarrenfabrik Dannemann etwa schmolz nach der Wende von 900 auf 200 Mitarbeiter, heute sind es noch 60. Auch das hessische Wanfried lernte die Probleme der Globalisierung kennen: Die Lichter gingen nicht nur bei größeren Betrieben wie der Strickerei Bode aus, die 450 Mitarbeiter hatte, bevor die Marke nach China verkauft wurde. Auch Unternehmen, die wegen der Förderungsmittel Zweigbetriebe am Zonenrand hatten, zogen ab, Dutzende Handwerksbetriebe machten dicht. Noch heute können sich Unternehmen in Thüringen die Hälfte ihrer Investitionen vom Staat finanzieren lassen, im Werra-Meißner-Kreis ist es rund ein Drittel. Und die Löhne liegen bis zu 20 Prozent unter dem hessischen Niveau.

Karte von Nordhessen und Thüringen (zur Großansicht bitte auf die Grafik klicken)

Bedingungen, die auch die Erfolgsgeschichte des Traditionsunternehmens Carl Warrlich nach dem Fall der Mauer begünstigten: 1904 in Treffurt als Hobel- und Sägewerk gegründet, spezialisierte sich das Unternehmen in den Fünfzigerjahren auf die Produktion von Kohleanzündern. 1972 wurde der Betrieb enteignet und in das „VEB-Flammat-Werk“ überführt. Und gehörte nach der Wende zu den ersten Betrieben, die von der Treuhand reprivatisiert wurden.

„Gut, dass wir nicht wussten, was auf uns zukam“, sagt die Geschäftsführerin und Enkelin des Firmengründers Margarethe Häßler, die in Treffurt aufgewachsen ist. Mit ihrem Bruder Karl-Heinz Warrlich steuerte sie das Unternehmen durch die Turbulenzen der Nach-Wendezeit. Die Investitionszulagen haben dabei geholfen. Heute werden Produkte der Marke Flammat, flüssige und feste Anzünder, bis nach Neuseeland vertrieben. Zwischen 1991 und 2008 stieg der Umsatz von 14 Millionen D-Mark auf 28 Millionen Euro. Die gut 50 Mitarbeiter kommen aus der Region, auch aus Hessen. „Wir produzieren in Treffurt“, sagt Margarethe Häßler, „weil wir hier wohnen und arbeiten wollen.“

Nach „Drüben“

Zumindest hier arbeiten, östlich der einstigen Grenze, das konnte sich auch Günter Grein vorstellen. Er verlegte den Sitz seines Familienunternehmens vom heimischen Wanfried in Nordhessen nach „drüben“, in die thüringische Nachbarschaft nach Großburschla. Seit neun Jahren lässt Grein hier T-Shirts besticken, Werbeplakate drucken, per Laser Jeansstoffe, Leder oder Holz mit Schriften und Bildern verzieren. Nicht nur aus Platzgründen zog Grein im Jahr 2000 mit seinem Firmensitz von Nordhessen nach Thüringen. 36 Festangestellte und 25 Minijobber arbeiten bei Grein, überwiegend Thüringer.

Der Unternehmer profitiert vom niedrigeren Tarifniveau Ost, obwohl er Dachschäden in Wanfried aus Lokalpatriotismus lieber von Wanfrieder Dachdeckern reparieren lässt. Mehr als eine Million Euro hat Grein in den vergangenen drei Jahren in Maschinen und Gebäude investiert, „ohne die Subventionen hätten wir das nicht in diesem Ausmaß gemacht“, sagt Juniorchef Georg Grein.

Von der Geschichte gezeichnet

Großburschla, einst eines der reichsten Handelsdörfer im mittleren Werratal, ist immer noch gezeichnet von seiner jüngeren Geschichte: Das Dorf in der Mitte Deutschlands, heute ein Stadtteil von Treffurt, war zu Zeiten des Kalten Krieges wegen des verschlungenen Grenzverlaufs von Grenzen eingeschlossen, dem Verfall preisgegeben im 500-Meter-Schutzstreifen des DDR-Sperrgebiets. Heute verrotten zwischen dreigeschossigen barocken Fachwerkhäusern Gebäude, weil die Eigentumsansprüche auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer nicht geklärt sind oder die Neueigentümer sich nicht genügend kümmern.

Für Bernd Range kam ein Umzug von Wanfried nach Thüringen nie infrage.Der Geschäftsführer von Pfau, einem Hersteller medizinischer Instrumente, hat 1995 mit neun Kollegen den Betrieb in Wanfried übernommen, als sein Arbeitgeber, das Unternehmen Aesculap, im Zuge der Osterweiterung nach Polen zog. 1,4 Millionen Euro, inklusive Investitionszuschüssen, hat Pfau zuletzt in den Ausbau des Betriebs gesteckt und damit acht neue Arbeitsplätze geschaffen. Die meisten der 38 Mitarbeiter haben in Wanfried und Umgebung ein Häuschen. Der kurze Weg zur Arbeit, die relativ niedrigen Lebenshaltungskosten, die schöne Landschaft des Werratals tragen zur Zufriedenheit der Mitarbeiter bei.

Wanfrieds Bürgermeister Gebhard: Das Förderungsgefälle beseitigen, die Abwanderung der Jugend verhindern Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Auch die jungen Männer, die sich am Wochenende in der „Gemeindeschänke“ des Wanfrieder Stadtteils Heldra zum Bier treffen, hängen an ihrem Heimatort – „mitten in Deutschland, am Arsch der Welt“, wie einer von ihnen sagt. Die etwas Älteren erinnern sich an die Zeit vor der Wende, als man in der hessischen Enklave ungestraft den Schlüssel im Auto stecken lassen konnte, weil Diebstahl unbekannt war am Ende der Welt, als man Tennis spielte auf der B 250 und die Angelschnur über die Werra warf: „Bitte verlassen Sie sofort das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik“, antwortete der Lautsprecher.

"Wir sind vergessen worden"

Erinnerungen, die heute immer weniger Menschen an die heimische Scholle binden. Beim Treffen seines Abiturjahrgangs jedenfalls gehört der Wanfrieder Bürgermeister Wilhelm Gebhard zur Minderheit, die in der Region geblieben ist. Der 33-Jährige verweist nicht nur auf das ominöse Förderungsgefälle, sondern auch auf die strukturellen Probleme, die Hessen und Thüringen verbinden: die schlechte Verkehrsanbindung und den demografischen Wandel. Richtung Osten ist die nächste Autobahnauffahrt 35 Kilometer entfernt, Richtung Westen gar 50 Kilometer.

Das letzte deutsch-deutsche Verkehrsprojekt, die A 44 zwischen Kassel und Eisenach, will nicht vorankommen. Den Naturschützern ist das Überleben des Wiesenknopf-Ameisenbläulings wichtiger als die wirtschaftliche Zukunft der Region. Eisenach und Mühlhausen, Kassel und Bad Hersfeld, wo sich die großen Transportwege kreuzen, haben den Werra-Meißner-Kreis abgehängt. „Wir sind einfach vergessen worden“, heißt ein Satz, den man häufiger hört in Wanfried und Umgebung.

Warrlich-Geschäftsführerin Häßler: 1972 von der DDR enteignet, gleich nach der Wende reprivatisiert Quelle: Nils Hendrik Müller für WirtschaftsWoche

Kein Wunder, dass immer mehr junge Leute abwandern. „Bis 1995 zog es vielen Menschen in die Region, darunter viele Richter und Staatsanwälte, die in Thüringen Aufbauhilfe leisteten“, erzählt Gebhard, „doch seither hat Wanfried von einst 5000 Einwohnern 600 verloren.“ Ungefähr so viele wie im benachbarten Treffurt, wo inzwischen auf eine Geburt zwei Sterbefälle kommen. Die Demografen haben ausgerechnet, dass der Werra-Meißner-Kreis bis 2050 mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung verlieren wird. Die Auswirkungen sind allenthalben jetzt schon sichtbar: Immer mehr Häuser stehen leer, Wohnungsbaugesellschaften investieren nicht mehr in die Gebäude, ältere Menschen dominieren das Stadtbild.

Reizvoll ist vor allem die Umgebung, mit Rad- und Wanderwegen, einem Fluss, der zu Kanutouren einlädt, und der schöne Ortskern. Eine Bürgerinitiative bemüht sich um den Erhalt der Wanfrieder Häuser, die Stadt versucht, die leer stehenden Fachwerkhäuser übers Internet zu vermarkten – an Interessenten in Berlin oder Hamburg, aber auch im europäischen Ausland, zum Beispiel in Holland. Die Generation 60 plus, die das Leben in der Großstadt satt hat, soll mit schönen, preiswerten, behindertengerechten Wohnungen gelockt werden.

Von Thüringern lernen

„Warum nicht nach Wanfried?“, sagt der Bürgermeister. Zwei Häuser seien schon verkauft worden, bei zwei weiteren stehe man in Verhandlungen. Schon heißt es, der Bürgermeister hole alte Leute hierher und mache die Stadt noch älter. Doch jeder Rentner, so Gebhard, der in Wanfried Geld ausgibt und damit Arbeitsplätze auch für junge Leute sichert, womöglich in der Altenbetreuung, sei willkommen. Ob das reicht, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen?

„Wer kämpft, der kann verlieren, wer nicht kämpft, der hat schon verloren“, sagt Hans-Jürgen Germerodt, Geschäftsführer und Gründer des Wanfrieder Gesundheitsunternehmens Werkmeister. Und könne dabei, so Germerodt, sogar von den Thüringern aus dem Grenzgebiet lernen. Zum Beispiel, wie man improvisiert, aus nichts etwas macht. Wie man sich selbst hilft, anstatt auf Hilfe zu warten – „denn das war immer eine weit verbreitete Mentalität am Zonenrand“.

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