Wie sehen Sie das mit Abstand, 25 Jahre später? Haben die Deutschen die Stunde null genutzt?
Dulig: Eine „Stunde null“ gab es doch gar nicht, und genau darin sehe ich heute eines der Hauptprobleme, welches die Entwicklung Ostdeutschlands gehemmt hat. Die DDR trat der BRD bei und löste sich dann quasi rückstandslos auf. Für die Menschen im Osten änderte sich von heut auf morgen alles, für den Westen hingehen änderte sich fast nichts ...
Hillenbrand: ... deshalb hat viele junge Westdeutsche die Einheit auch so wenig interessiert, sie ging uns irgendwie nichts an. Sie blieb erst mal im fernen Westen gefühlt so folgenlos.
Dulig: Die Chance, aus der Kraft der Einheit ein neues Land und eine gemeinsame Verfassung zu entwickeln, wurde so verpasst. Das aber hätte viele der Minderwertigkeitskomplexe verhindert, die Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland bis heute mit sich herumschleppen. Auch ein Vierteljahrhundert später muss man sich, wenn man über Fehler und Unterschiede redet, immer eines klarmachen: Man hätte die Einheit auch anders gestalten können.
Schulze: So, wie es gelaufen ist, entsprach es eben den Vorstellungen der bundesdeutschen Regierung. Ich darf daran erinnern, das der Spruch „Wir sind ein Volk“ erstmals auf einem Aufkleber der CDU bei einer Leipziger Demonstration auftauchte. Helmut Kohl hat den Ostlern den Weihnachtsmann aus dem Westen gegeben – und die haben gerne daran geglaubt. Die D-Mark wurde der DDR auf Regierungsebene angeboten, bevor sie auf der Straße gefordert wurde. Dabei musste doch jedem, der einen halbwegs verständigen Blick auf das Thema hatte, klar sein, dass die Währungsunion niemals funktionieren konnte.
So verschieden sind Ost und West
„Blühende Landschaften“ gibt es im Osten eher wenige. Die Wirtschaftskraft liegt ein Drittel unter dem Niveau der westdeutschen Länder. Und: Die Lücke schließt sich seit einiger Zeit kaum noch. (Quelle: dpa)
Ostdeutsche verdienen viel weniger. So betrug der mittlere Bruttomonatslohn im Westen zuletzt 3094 Euro, im Osten nur 2317 Euro.
Die Kluft zwischen Ost und West wird immer kleiner. In Ostdeutschland ist die Arbeitslosenquote auf dem tiefsten Stand seit 1991. Trotzdem beträgt sie noch 9,1 Prozent, im Westen 5,8 Prozent.
Wegen des früheren Berufseinstiegs in der DDR sind Renten im Osten meist höher. Zuletzt bekamen Männer im Schnitt 1096 Euro, Frauen 755 Euro. Im Westen: Männer 1003 Euro, Frauen 512 Euro.
Ostdeutsche besitzen nicht einmal halb so viel. Während Erwachsene im Westen im Schnitt über 94 000 Euro verfügen, sind es im Osten nur 41 000 Euro. Der Durchschnittswert selbst genutzter Immobilien liegt im Westen bei 151 000, im Osten bei 88 000 Euro.
In Westdeutschland ist der Kinderwunsch deutlich ausgeprägter. Nach einer Forsa-Umfrage möchten 63 Prozent der jungen Erwachsenen hier auf jeden Fall Kinder, im Osten nur 47 Prozent.
In der DDR gehörte die Krippe zum Alltag, das wirkt bis heute nach. 2013 war die Betreuungsquote im Osten mit 49,8 Prozent noch mehr als doppelt so hoch wie in den westdeutschen Ländern mit 24,2 Prozent.
Ostdeutsche Straßen sind gefährlicher - und besonders gefährlich sind die in Brandenburg. Bei Verkehrsunfällen starben 2013 dort 69 Menschen pro eine Million Einwohner, in Sachsen-Anhalt 61. Im Bundesdurchschnitt waren es gerade mal 41.
Ob Helene Fischer oder Tim Bendzko: Musik mit deutschem Text ist im ganzen Land beliebt, nach einer Umfrage im Osten (84 Prozent) aber noch deutlich stärker als im Westen (74 Prozent).
Rund 82 Prozent der Ostdeutschen wünschen sich einer Forsa-Umfrage zufolge bei einer schweren Erkrankung Sterbehilfe. In Westdeutschland sind es nur 67 Prozent.
Sie können sich im Osten wegen niedrigerer Mieten mehr leisten. Laut Umfrage zahlt jeder zweite weniger als 300 Euro Miete, im Westen nur jeder dritte. Für Ausgehen oder Hobbys geben Studenten im Osten im Schnitt 178 Euro aus, 16 Euro mehr als die Kommilitonen im Westen.
Die historisch gewachsene Kluft bleibt groß: 2011 waren noch 25 Prozent der Menschen im Osten Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche, im Westen 70 Prozent.
Nach einer Umfrage von Infratest dimap bewerten etwa 75 Prozent der Ostdeutschen die Wiedervereinigung positiv. In Westdeutschland sieht dagegen nur rund die Hälfte der Befragten (48 Prozent) mehr Vor- als Nachteile.
Hillenbrand: Na ja, Sie dürfen umgekehrt aber auch nicht vernachlässigen, wie wenig wir Westdeutschen über Ostdeutschland wussten. Das war für viele, sicherlich auch unter den Politikern, letztlich eine sozialistische Blackbox. Wer wusste denn, wie marode hier vieles war? Als ich das erste Mal nach Oelsnitz kam, wo ich noch heute wohne und arbeite, war ich erschrocken. Wie die Straßen manchmal aussahen! Viele Wohnungen hatten die Toilette auf dem Hof. Wie bei Michel aus Lönneberga kam mir das alles vor – und ich rede immerhin schon von 1996.
Ragnitz: Gut, dass Sie das sagen. Es ist wichtig, sich immer wieder diese Bilder in Erinnerung zu rufen, wenn man eine Bilanz der Einheit ziehen will. Denn dann sieht man auch, wie viel seitdem erreicht wurde.
Reden wir also zum Jubiläum, im Großen und Ganzen, von einem Erfolg?
Dulig: Wir können nicht über Erfolg oder Misserfolg der Einheit sprechen, ohne die Treuhand zu erwähnen. Das Ziel der Treuhand war, die Ostwirtschaft möglichst schnell abzuwickeln. Das nannte sich zwar oft Joint Venture, aber das waren meist keine Partnerschaften auf Augenhöhe. Und auch der Einigungsvertrag war kein langfristig ausgeklügelter Masterplan, sondern eher ein schnell gefertigter Ehevertrag.
Ragnitz: Bis vor Kurzem habe ich ähnlich argumentiert. Inzwischen sehe ich das anders. Denn zumindest politisch war es klug, es so zu machen, wie es gemacht wurde. Mit der Treuhand schuf man den perfekten Sündenbock, den man später für alle Fehler im Osten verantwortlich machen konnte. Sehr bequem.
Schulze: Bequem vielleicht, aber trotzdem dumm. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte auf 27 Prozent, das war stärker als in jedem anderen Land im Osten, selbst mehr als in jenen, die einen Bürgerkrieg erlebt hatten. Es wurde einfach alles privatisiert, alles. Das verträgt keine Wirtschaft, wenn man sie von einem Tag auf den anderen auf den Markt wirft. Die Treuhand musste scheitern unter diesen Vorgaben.
Hillenbrand: Dieses Lamento, meine Herren, ist mir ein bisschen zu einseitig. Man hat doch meistens das Gute aus dem Westen übertragen.
Ragnitz: An was denken Sie? An die Verwaltung?
Hillenbrand: Ja, zum Beispiel.
Ragnitz: Sie haben insofern recht, als dass das im Westen erfolgreiche Systeme waren. Aber für eine Wirtschaft im Totalumbruch wie die ostdeutsche Anfang der Neunzigerjahre war die Westbürokratie viel zu hochgezüchtet. Da hätte es viel einfachere Strukturen gebraucht.