40 Jahre WirtschaftsWoche Helmut Schmidt: Die Sünden der Politik in den 70ern

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Erinnert an Griechenland.Griechenland ist ein typisches Phänomen – ich nenne es das Herdenverhalten der Finanzmanager. Plötzlich findet einer: Die Griechen sind zu hoch verschuldet, da kann was schiefgehen. Also verkaufe ich alles, was griechisch aussieht, vielleicht sogar leer. Einer macht’s dem anderen nach, und plötzlich ist Griechenland in einer großen Verschuldungskrise.

Eine der Konsequenzen, die man spätestens im Jahr 2009 hätte ziehen müssen, dass nur solche Derivative einer Bank zu handeln erlaubt sind, deren Wert dadurch bekannt ist, dass sie an der Börse notiert sind. Dass ich etwas verkaufe, das ich nicht habe und dessen Wert niemand kennen kann, dessen Wert man in der Bilanz so oder so ansetzt, je nachdem, wer gerade das Sagen hat – das darf es nicht geben. (zieht ein Papier hervor) Ich habe in Vorbereitung auf dieses Interview etwas gefunden, das ist mir gestern zufällig in die Hand gekommen: die Bandnachschrift aus einer Klausurtagung des Sozialdemokratischen Parteivorstandes: 31. Januar 1975. Wir haben damals der italienischen Regierung Kredit gegeben, einige Milliarden D-Mark.

Ich lese Ihnen mal ein paar schöne Sätze vor: „Jede Milliarde, die den Italienern geliehen wird, bedeutet Anspruch auf reale Güter. Jede Milliarde, die den Franzosen oder Engländern zugeschoben wird auf dem Wege der Neugestaltung des europäischen Haushalts, sind Entscheidungen über reale Güter“ – das alles steht jetzt wieder an. Das heißt, da mahnt einer zur Vorsicht, ohne dass Griechenland hier vorkommt.

Wie viel und wie schnell muss die EZB das Geld wieder einsammeln, das sie jetzt in den Markt gegeben hat?Richtig ist, dass zumindest ein Teil eingesammelt werden muss. Wie schnell? Da zögere ich, eine Theorie zu verkünden. Am Patienten Weltwirtschaft sind an die 200 Regierungen beteiligt, davon sind 40 wichtig. Und alle reagieren etwas anders. Sie haben die gegenwärtige Art von Krankheit noch nie erlebt. Also werden sie vorsichtig sein und nicht gleich ein Bein abschneiden. Sie werden schmerzstillende Mittel geben, Beruhigungspillen. Aber sie werden auf Sicht behandeln. Ein schnelles Zurückfahren der Verschuldung für die ganze Welt hat noch niemand je probiert. Die Risiken sind gar nicht übersehbar. Da würde ich vorsichtig sein – die nächsten drei Jahre.

Das Problem keynesianischer Konjunkturpolitik ist, dass die Regierung im Aufschwung die Ausgaben wieder zurückfahren müsste. Ist das in einer Demokratie überhaupt möglich, wenn man in der Rezession nicht sparen darf und im Aufschwung nicht sparen will, um wiedergewählt zu werden?Was Sie beschreiben, ist leider von der Wahrheit nicht sehr weit entfernt. Dass die Demokratie niemals langfristig handelt, sondern meistens maximal bis zum Ende der laufenden Wahlperiode, ist leider wahr. Demokratie hat 1000 Fehler. Einer davon ist, dass die Mehrheit recht bekommt, auch wenn sie unrecht hat. Ein anderer Fehler ist, dass Politiker nur gewählt werden, wenn sie sich dem Publikum angenehm machen.

Sie haben sich auch unbeliebt gemacht. Hat es Sie jemals gereut, für die Atomenergie eingetreten zu sein?Nein. Es war damals richtig, und es ist bis heute nicht falsch. Ich bin übrigens nicht besonders dafür eingetreten, sondern ich habe bewusst das fortgesetzt, was ich von den vorhergehenden Regierungen vorfand. Sie dürfen nicht reinfallen auf die Propaganda der 68er. Die haben mich zum Atomkanzler gemacht.

Es gab Schlachten an den Kraftwerksstandorten. Sehen Sie sich als Geburtshelfer der Grünen?Das ist dummes Zeug. Die Grünen sind keine deutsche Erfindung. Solche Parteien sind auch woanders entstanden, übrigens nicht überall gegen Kernkraftwerke. Die Grünen waren eine bürgerliche Jugendbewegung. Die kamen nicht aus der Arbeiterschaft.

Aber etwas alt geworden.Gott sei Dank. Selbst die jungen Leute werden erwachsen. Das hat mit Atomkraft eigentlich nichts zu tun. Es hat zu tun mit dem Aufbegehren der jungen Generation, die nicht zufrieden ist mit dem, was sie vorfindet. Das gibt es auf jedem Bauernhof, das ist ganz normal. Aber die Deutschen sind aufgrund ihrer Geschichte immer etwas anfälliger für Psychosen, für Angstpsychosen. Eine Zeit lang hatten alle Angst vor dem Waldsterben; dann hatten sie Angst vor dem Ende des Wachstums. Andere waren froh, dass es nun endlich aufhört mit dem Wachstum.

Ein großes innenpolitisches Versäumnis der letzten 40 Jahre ist die Reaktion auf den demografischen Wandel. Woran liegt das?In der erwähnten Vorstandsklausur von 1975 redet der Schmidt auch vom Pillenknick (nimmt wieder das Protokoll zur Hand), „der in seinen gesamtökonomischen Auswirkungen jetzt deutlich erkennbar wird. Der Bevölkerungszuwachs nimmt ab, die Gesamtbevölkerung nimmt ab, die Erwerbsbevölkerung wird überproportional abnehmen, und die Rentnerbevölkerung wird zunehmen“. Das heißt, man hat alles damals schon gesehen, was sich erst im Lauf der nächsten Jahrzehnte im öffentlichen Bewusstsein mitteilt. Allerdings stand das damals auch nicht so in der öffentlichen Regierungserklärung.

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