500 Jahre Reformation "Wir brauchen Luther als Notbremse"

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Die Sackgasse der Moderne

Versuchen wir es: Was meint Luther, wenn er sagt, unser Denken und Tun sei mit dem Makel der Sünde behaftet?
Dass wir nicht „nicht“ sündigen können. Dass die Sünde nur ein anderer Name für die Natur des Menschen ist, modern gesprochen: für seine Triebstruktur, seine Aggressivität. Für seine seelischen Potenziale, die zum Bösen ausschlagen können, die ihn korrumpieren, an denen er deshalb arbeiten muss. Oder nehmen Sie so etwas wie Dummheit oder Trägheit: Dagegen kämpfen wir ein Leben lang, oft vergeblich, um ein humanes Dasein zu führen.

Trotzdem sprechen wir lieber vom „inneren Schweinehund“ statt von Sünde. Warum meinen wir, diesen Begriff nicht mehr nötig zu haben?
Weil wir als aufgeklärte Menschen gelernt haben, dass theologische Kategorien prinzipiell unzuständig sind für unser Selbstverständnis. Die Aufklärung beginnt ja als Religionskritik, insofern ist der antireligiöse Affekt der Grundaffekt der Aufklärung selber.

Sie sagen, die Sündhaftigkeit fordere die Arbeit an sich selbst. Aber die ist doch, nach Luther, gerade kein Heilsweg.

Schon, aber das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollen. Im Gegenteil: Luther erwartet, dass wir die Gebote der Sittlichkeit achten und uns im Beruf bewähren. Sein entscheidender Punkt ist ein anderer: Du kannst so lang, wie du willst, an dir selbst und an der Welt arbeiten, aber glaube nicht, dass dich das dem Gottesreich auch nur einen Schritt näherbringt. Dahin führt allein der Glaube an das, was geoffenbart ist.

Auf Gnade können wir nur hoffen?
Ja, denn alles andere hieße, um es platt zu formulieren, man könnte Gott zwingen. Dann aber brächte man sich um das Geschenk der Gnade. Das ist es, was Luther der Neuzeit gleichsam im Vorhinein vorwirft: dass sie ein Selbstbewusstsein kreiert, das nicht mehr weiß, was Gnade ist.

Das gilt doch bis heute: Die Menschen fragen nicht à la Luther, wie sie einen gerechten Gott bekommen können, sondern wie sie glücklich werden im Leben.
Richtig, und genau das beschreibt die Sackgasse der Moderne. Wenn es lebensimmanente, irdische Wege zum Glück gäbe, dann wäre ja alles in Ordnung. Aber sie sind sämtlich gescheitert, vom Sozialismus bis zu diversen Projekten der Selbstverwirklichung. Der hedonistische Weg zum Glück führt in die Leere, ins Nichts. Und das merken die Leute. Sonst hätte die Religion gar keine Chance mehr, dann würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Heute, 500 Jahre nach Luther, erkennen wir dessen Aktualität viel deutlicher als noch vor 100 Jahren, weil all diese Glücksangebote, diese Ersatzreligionen sich gründlich blamiert haben.

Wer das Glück sucht, verfehlt das Leben?
Ach, Glück ist eine viel zu schwache Kategorie. Wenn Sie Ihr Leben radikal befragen, etwa angesichts des Todes, melden sich die Fragen nach Heil und Erlösung unendlich viel dringlicher als die nach dem Glück. Und diese Erfahrung verknüpft unser Schicksal durchaus mit dem, worum es den Menschen vor 500 Jahren ging: um so etwas wie Heilsgewissheit. Wenn Luther vom gnädigen Gott spricht, dann meint er eine transzendente Instanz, die unsere Sünden von uns nimmt in einem Akt der Begnadigung, die wir gar nicht verdient haben. Das befreit von den Lasten der Heilsgewinnung.

Heute hat kaum noch jemand den Wunsch, begnadigt zu werden.
Eben, das ist unser prometheischer Stolz. Aber wenn gesagt wird, dass wir der Gnade nicht mehr bedürftig seien, dann heißt das doch kritisch formuliert: Wir können uns gar nichts mehr schenken lassen – welch ein Jammer! Denken Sie nur an Weihnachten! Oder an die Liebe! Vielleicht das schönste Beispiel für ein unverdientes Geschenk. Jeder, der die Erfahrung von Liebe gemacht hat, weiß, was gemeint ist: dass man abhängig ist von etwas, worüber man keine Macht hat. Geliebt zu werden, das können Sie sich gar nicht verdienen, das ist eine Gnade, eine Befreiung von der eigenen Selbstbezogenheit. Deshalb kennen so viele Spielarten der Mystik ein Kontinuum zwischen der Liebe zweier Menschen und der Gottesliebe. Damit ist gemeint, dass wir um unserer selbst willen angewiesen sind auf den anderen, auf Transzendenz. Das Wesentliche kommt von außen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es irgendein Konzept menschlicher Identität gibt, das nicht über Transzendenz vermittelt wäre.

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