500 Jahre Reformation "Wir brauchen Luther als Notbremse"

Der Philosoph Norbert Bolz über den ewigen Störenfried Martin Luther, das Versagen des deutschen Protestantismus und die Frage: "Was ist Sünde?"

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Ein Farbglasfenster aus dem Jahre 1911 von Eduard Stritt zeigt Reformator Martin Luther in der Veste Coburg.

Herr Bolz, evangelische wie katholische Kirche scheinen fest entschlossen, das Reformationsjahr im Zeichen der Einheit zu feiern. Taugt Martin Luther als überkonfessionelle Identifikationsfigur?
Es wäre absurd, ausgerechnet im Reformator den Versöhner zwischen den Konfessionen zu feiern. Er war ja ein Spalter, der die Revolte gegen die katholische Kirche erst in Gang gesetzt hat. Die tastenden Versuche der Wiederannäherung der Konfessionen verstehe ich eher als politische Manöver, mit Theologie hat das wenig zu tun. Wie man ohnehin in der öffentlichen Darstellung gerade der evangelischen Kirche kaum mehr wiedererkennen kann, was einmal Theologie war. Erst recht nicht, was Luther im Sinn hatte.

Die römisch-katholische Weltkirche

Was meinen Sie damit?
Ich beobachte schon seit Längerem eine theologische Entkernung des Protestantismus. Was übrig bleibt, ist eine Fassadenarchitektur. Im Grunde gilt Luther als Störfaktor, den man am liebsten eliminieren möchte, um eine modernitäts- und talkshowtaugliche Form von Protestantismus zu präsentieren. Dahinter steckt der verzweifelte Versuch, den Mitgliederschwund zu stoppen und wieder Zuspruch zu gewinnen.

Was spricht dagegen, dass die evangelische Kirche zeigen will, wie aktuell ihre Glaubensbotschaft ist?
Nichts, wenn sie es denn ernst meinte damit. Stattdessen scheint sie von der Angst getrieben, nicht mithalten zu können mit einer Öffentlichkeit, der alles Theologische fremd geworden ist. Dabei müsste heute jede Religion, die sich ernst nimmt, angesichts der modernen Welt stolz darauf sein, dem Zeitgeist zu widerstehen.

Das Reformationsjahr als Chance, von Luther, dem Unzeitgemäßen, zu lernen?
Unbedingt, Luther ist ein dauerndes Ärgernis, ein notorischer Ruhestörer, heute wie vor 500 Jahren. Warum? Weil er den Glauben beim Wort nahm, weil er seinen dogmatischen Kern bewahren wollte. Dogma heißt ja nichts anderes als der „richtige Glaube“. Der freilich lässt sich kaum den Standards der wissenschaftlich-technischen Welt anpassen. Wenn Modernität bedeutet, diesen Rahmen als den einzig verbindlichen anzuerkennen, dann kann die Kirche niemals modern, niemals zeitgemäß sein. Dafür allerdings stand Luther auf radikale Weise, in seiner Vernunftskepsis, seiner polemischen Energie, seinem Mut und seiner Standhaftigkeit gegenüber den Mächtigen seiner Zeit. Das fehlt heute am meisten: dieses „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“.

Zur Person

Ist Frau Käßmann nicht mutig gewesen, als sie gegen die Afghanistan-Politik predigte?
Wer ekstatischen Pazifismus betreibt, den kann man schlecht als mutig bezeichnen. Der bewegt sich geschmeidig innerhalb des Mainstreams. Zu den Todsünden der evangelischen Kirche gehört seit vielen Jahren vor allem ihre dilettantische Einmischung in politische Fragen, von denen sie schlechterdings keine Ahnung hat. Auch da könnte sie von Luther lernen, der Politik und Religion aus religiösen Gründen scharf getrennt hat.

Hat die evangelische Kirche Luthers zentrale Themen wie Sünde und Gnade auch deshalb aufgegeben, weil wir Heutigen nur noch wenig damit anfangen können?
Ich gebe zu, es will gelernt sein, sich etwa von der christlichen Sündenlehre einen Begriff zu machen in einer Zeit, die den Sünder zum bloßen Patienten erklärt. Aber auch das hat Luther schon gesehen: Der Glaube muss geübt werden. Es genügt nicht, dass man die Bibel im stillen Kämmerlein liest, man braucht die Kirche, um die Einübung in den Glauben zu praktizieren. Ein anderer großer protestantischer Theologe, Sören Kierkegaard, hat genau das zu seinem Zentralproblem gemacht: Wir müssen uns die christlichen Schlüsselbegriffe erst wieder erarbeiten, müssen lernend in sie hineinfinden, um unsere Identität als freiheitliche Christenmenschen formulieren zu können.

Die Sackgasse der Moderne

Versuchen wir es: Was meint Luther, wenn er sagt, unser Denken und Tun sei mit dem Makel der Sünde behaftet?
Dass wir nicht „nicht“ sündigen können. Dass die Sünde nur ein anderer Name für die Natur des Menschen ist, modern gesprochen: für seine Triebstruktur, seine Aggressivität. Für seine seelischen Potenziale, die zum Bösen ausschlagen können, die ihn korrumpieren, an denen er deshalb arbeiten muss. Oder nehmen Sie so etwas wie Dummheit oder Trägheit: Dagegen kämpfen wir ein Leben lang, oft vergeblich, um ein humanes Dasein zu führen.

Trotzdem sprechen wir lieber vom „inneren Schweinehund“ statt von Sünde. Warum meinen wir, diesen Begriff nicht mehr nötig zu haben?
Weil wir als aufgeklärte Menschen gelernt haben, dass theologische Kategorien prinzipiell unzuständig sind für unser Selbstverständnis. Die Aufklärung beginnt ja als Religionskritik, insofern ist der antireligiöse Affekt der Grundaffekt der Aufklärung selber.

Sie sagen, die Sündhaftigkeit fordere die Arbeit an sich selbst. Aber die ist doch, nach Luther, gerade kein Heilsweg.

Schon, aber das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollen. Im Gegenteil: Luther erwartet, dass wir die Gebote der Sittlichkeit achten und uns im Beruf bewähren. Sein entscheidender Punkt ist ein anderer: Du kannst so lang, wie du willst, an dir selbst und an der Welt arbeiten, aber glaube nicht, dass dich das dem Gottesreich auch nur einen Schritt näherbringt. Dahin führt allein der Glaube an das, was geoffenbart ist.

Auf Gnade können wir nur hoffen?
Ja, denn alles andere hieße, um es platt zu formulieren, man könnte Gott zwingen. Dann aber brächte man sich um das Geschenk der Gnade. Das ist es, was Luther der Neuzeit gleichsam im Vorhinein vorwirft: dass sie ein Selbstbewusstsein kreiert, das nicht mehr weiß, was Gnade ist.

Das gilt doch bis heute: Die Menschen fragen nicht à la Luther, wie sie einen gerechten Gott bekommen können, sondern wie sie glücklich werden im Leben.
Richtig, und genau das beschreibt die Sackgasse der Moderne. Wenn es lebensimmanente, irdische Wege zum Glück gäbe, dann wäre ja alles in Ordnung. Aber sie sind sämtlich gescheitert, vom Sozialismus bis zu diversen Projekten der Selbstverwirklichung. Der hedonistische Weg zum Glück führt in die Leere, ins Nichts. Und das merken die Leute. Sonst hätte die Religion gar keine Chance mehr, dann würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Heute, 500 Jahre nach Luther, erkennen wir dessen Aktualität viel deutlicher als noch vor 100 Jahren, weil all diese Glücksangebote, diese Ersatzreligionen sich gründlich blamiert haben.

Wer das Glück sucht, verfehlt das Leben?
Ach, Glück ist eine viel zu schwache Kategorie. Wenn Sie Ihr Leben radikal befragen, etwa angesichts des Todes, melden sich die Fragen nach Heil und Erlösung unendlich viel dringlicher als die nach dem Glück. Und diese Erfahrung verknüpft unser Schicksal durchaus mit dem, worum es den Menschen vor 500 Jahren ging: um so etwas wie Heilsgewissheit. Wenn Luther vom gnädigen Gott spricht, dann meint er eine transzendente Instanz, die unsere Sünden von uns nimmt in einem Akt der Begnadigung, die wir gar nicht verdient haben. Das befreit von den Lasten der Heilsgewinnung.

Heute hat kaum noch jemand den Wunsch, begnadigt zu werden.
Eben, das ist unser prometheischer Stolz. Aber wenn gesagt wird, dass wir der Gnade nicht mehr bedürftig seien, dann heißt das doch kritisch formuliert: Wir können uns gar nichts mehr schenken lassen – welch ein Jammer! Denken Sie nur an Weihnachten! Oder an die Liebe! Vielleicht das schönste Beispiel für ein unverdientes Geschenk. Jeder, der die Erfahrung von Liebe gemacht hat, weiß, was gemeint ist: dass man abhängig ist von etwas, worüber man keine Macht hat. Geliebt zu werden, das können Sie sich gar nicht verdienen, das ist eine Gnade, eine Befreiung von der eigenen Selbstbezogenheit. Deshalb kennen so viele Spielarten der Mystik ein Kontinuum zwischen der Liebe zweier Menschen und der Gottesliebe. Damit ist gemeint, dass wir um unserer selbst willen angewiesen sind auf den anderen, auf Transzendenz. Das Wesentliche kommt von außen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass es irgendein Konzept menschlicher Identität gibt, das nicht über Transzendenz vermittelt wäre.

Notbremse der Postmoderne

Sie wollen sagen, es bedürfe nicht nur des anderen, sondern auch des ganz anderen, um Identität zu gewinnen?
Richtig, denn wenn Sie sich auf rein dialogische Verhältnisse einlassen, können Sie nie sicher sein, nicht doch in die Narzissmusfalle zu tappen. Die meisten Liebesverhältnisse scheitern ja daran, dass wir den anderen als Double unserer selbst wahrnehmen. Dieses Problem taucht in der Gottesliebe nicht auf, seit wir Gott als den ganz anderen erfahren haben: So ist es schon bei Luther. Er hat allerdings eine besonders elegante Lösung gefunden, sozusagen einen Trick, indem er Gott verdoppelt hat: Demnach gibt es den lieben Gott und den verborgenen, fremden Gott. Letzteren hat die evangelische Kirche erfolgreich verdrängt. Damit aber verliert das Glaubensgebäude sein Fundament...

...zu Luthers Gedanken gehört, dass die Freiheit des Christenmenschen in seiner Gottesknechtschaft, die Furchtlosigkeit in seiner Gottesfurcht gründet. Erklären Sie uns bitte, wie das zusammengeht.
Ganz einfach: Wenn Sie vor dem absoluten, gnädigen Vater in die Knie gehen, brauchen Sie vor nichts anderem mehr Angst zu haben. Dann sind Sie frei. Das ist das Irre, das Tolle an dieser Sache: Wenn Sie sich einlassen auf den Glauben an den allmächtigen Gott, dann kann Ihnen nichts mehr passieren, dann sind Sie unantastbar. Sie unterwerfen sich dem absoluten Herrn – und brauchen keinen empirischen Herrn mehr zu fürchten. Der kann Ihnen zwar das Leben zur Hölle machen, aber das, was Ihre Identität ausmacht, ist gerettet und geheilt.

Eine extrem unparitätische Konstellation.
Allerdings. Deshalb ist der junge, um sein Seelenheil ringende Luther so authentisch, wenn er gesteht: Ich hasse Gott in seiner Absolutheit. Die einzige Möglichkeit, diese Blockade zu überwinden, war für ihn der Glaubensgehorsam, der zur absoluten Befreiung führte.

Eine Aufforderung zur Selbsterniedrigung?
Unbedingt. Mit der Aktualität Luthers ist bitte nicht gemeint, dass er uns gut in den Kram passt, sondern dass er ein Stachel ist. Diesen Stachel haben wir nötiger denn je. Unsere fabelhafte Postmoderne, das therapeutische Zeitalter, der technische Fortschritt, dem wir die fantastischsten Erfolgsgeschichten verdanken, all das hat uns existenziell keinen einzigen Schritt über Luther hinausgeführt. Wenn Self-Tracking mittlerweile das physiologische Pendant zur Selbstvervollkommnung ist, dann ist das so erbärmlich, dass man die Notbremse ziehen möchte. Genau das macht Luthers Aktualität aus: Wir brauchen ihn als Notbremse.

Auch die evangelische Kirche?
Joseph Ratzinger hat gesagt: Lieber sollte die katholische Kirche wieder zur Sekte werden, als ihre Dogmen zu verraten. Wenn sich zu diesem Satz mal jemand in der evangelischen Kirche durchringen könnte, dann würde ich sagen: Da ist er, der Mut Luthers. Jetzt gibt es wieder eine Chance.

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