60 Jahre Soziale Marktwirtschaft Deutsche Wirtschaftsordnung: Ersonnen hinter Klostermauern

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Menschen stehen am 2. August Quelle: AP

Den Schwachen, die aus eigener Kraft nicht für sich sorgen könnten, so glaubt Müller-Armack, müsse die Gesellschaft helfen. Und hier liegt eine Parallele: Auch die Canisianer haben sich einst gegründet, um die Schwächsten zu stützen. Von Müller-Armack erzählen die Brüder, dass er sich nie religiös gegeben habe. Den Gebetsstunden bleibt er fern, auch als seine Frau Irmgard in die Kirche eintritt. Geprägt haben ihn die Klosterjahre doch. Im August 1949 verlassen die Müller-Armacks Vreden. An diesem Tag notiert Bruder Otto in seiner Chronik: „Prof. Müller schenkt zum Abschied zwei silberne Messkännchen.“

Im Wolfsburger Volkswagen-Werk rollt in dieser Zeit die Massenproduktion des Käfers an. Ein Auto, das zum Symbol des Wirtschaftswunders werden soll – mit einer Silhouette so üppig wie Ludwig Erhards Bauch und so rund wie die neue D-Mark. „Das Rundliche hatte Erfolg in dieser Zeit“, sagt Manfred Grieger, Leiter der historischen Kommunikation bei Volkswagen. Bis heute ist Volkswagen ein Symbol für das deutsche Wirtschaftsmodell geblieben. Nirgendwo wird die soziale Marktwirtschaft öfter zitiert, das S größer geschrieben als in Wolfsburg, wo die IG Metall traditionell stark und die Sozialpartnerschaft innig ist – manchmal sogar zu innig. Und nirgendwo sind die Versuche eifriger, diese Wirtschaftsordnung an die Zeit anzupassen. An das Wirtschaftswunder. Die Ölkrise. Die Wiedervereinigung. Die Restrukturierungswelle. Die Globalisierung.

In den Fünfziger- und Sechzigerjahren wächst Volkswagen rasant. Das Unternehmen wirbt Mitarbeiter aus anderen Ländern an. Zehntausende kommen, um schnell gutes Geld für ihre Familie daheim zu verdienen. Manche bleiben für immer.

Vor sieben Jahren war Hartz ein Held bei Volkswagen

Zwei Koffer aus Pappe, mehr hat Domenico Pupello nicht dabei, als er an einem Apriltag des Jahres 1970 in Wolfsburg aus dem Zug klettert. Er trägt ein Hemd mit kurzem Arm. Zu Hause an der Adria blühen die Zitronen, doch am Mittellandkanal herrscht Bodenfrost. In der Nähe des Bahnhofes reißen zwei Bauarbeiter die Straße auf. „Wie kann man bei dieser Eiseskälte bloß draußen arbeiten?“, wird Domenico Pupello an diesem Abend fragen.

Er hat sich daran gewöhnt. An die Kälte. An die Arbeit im Werk. Und an die Kollegen, die anfangs nicht wussten, dass man Spaghetti besser al dente kocht. Domenico Pupello hat sich weitergebildet, auch nach Feierabend, er hat in Wolfsburg ein Häuschen gebaut und eine Familie gegründet. Heute ist er 56 Jahre alt und kümmert sich in der Personalabteilung um den Werksbus. Auch sein Sohn Emanuel schafft heute bei Volkswagen. Als Ingenieur.

Noch in seinem allerersten Werksjob kümmert sich Domenico Pupello um den Himmel. Ein schönes Wort, findet er. Beinahe eine Verheißung. Mit Hämmerchen und Schraubenzieher spannt er Stoffbahnen unter die Käfer-Decke, bis abends der Nacken schmerzt. Drei Dutzend Jahre liegt das nun zurück. Und die Zeiten haben sich geändert. Der Käfer wird heute nicht mehr produziert, als Verkaufsschlager hat ihn der Golf längst abgelöst. In diesem Herbst kommt der neue Golf VI auf den Markt. Und die Decke, die heißt heute nicht mehr Himmel, sondern Modul und wird von Roboterarmen eingesetzt.

Volkswagen ist noch immer ein deutsches Unternehmen. Aber es ist ein Konzern, der auf der ganzen Welt aktiv ist. Und dessen Konkurrenten auf der ganzen Welt aktiv sind. Globalisierung und Kostenkampf haben dem Konzern schwer zugesetzt. Volkswagen hat die Vier-Tage-Woche eingeführt und später wieder abgeschafft, und vor allem hat der Konzern ein Zukunftsmodell geschaffen, das erfolgreich ist, weil es die Mitarbeiter in eine Zwei-Klassen-Belegschaft spaltet.

Über Peter Hartz, den ehemaligen Personalvorstand, spricht man nicht mehr gern in Wolfsburg, seit sein Name nicht nur für eine zu Unrecht verunglimpfte Arbeitsmarktreform steht, sondern auch für einen waschechten Huren-Skandal. Vor sieben Jahren jedoch war Hartz ein Held bei Volkswagen. 2002 stellt er 5000 Arbeitslose für 5000 Mark brutto ein, rund 20 Prozent weniger als die Stammbelegschaft verdient.

Peter Hartz ist längst Geschichte in Wolfsburg, aber die Zwei-Klassen-Bezahlung ist geblieben. In den Werkshallen erkennt man den Unterschied an der Firmenkluft: Wer zur Volkswagen-Stammbelegschaft gehört, der steckt in blau-weißen Jacken und Hosen. Wer bei der Auto 5000 GmbH arbeitet, der trägt grau-gelb. Viele Kollegen erzählen, dass sie „superfroh“ über ihre Jobs seien. Alles sei neu, die Halle, die Kollegen, sogar das Automodell, „eine besondere Stimmung eben“, heißt es. Und vielleicht ist das ja der Beweis dafür, dass eben doch sozial ist, was Arbeit schafft.

Trotzdem sind der Auto 5000 GmbH Berichte über ihre Mitarbeiter derzeit nicht recht. Noch heute verdienen die Grau-Gelben weniger als die Facharbeiter in der Stammbelegschaft. In ihrer Halle bauen sie inzwischen nicht nur den Touran, sondern auch den Tiguan, für den Heidi Klum Werbung macht. Für das Selbstbewusstsein der Belegschaft ist das gut. Der Betriebsrat dringt auf höhere Löhne.

Die Sache mit dem Selbstbewusstsein ist an anderen Orten schwieriger. Zum Beispiel bei der Bundesbank, einer der wichtigsten Institutionen des Wirtschaftssystems. Oder sollte man besser sagen: eine der ehemals wichtigsten Institutionen?

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