60 Jahre soziale Marktwirtschaft Die Zukunft unserer Wirtschaftsordnung

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Führt nicht genau die gefühlte Ungleichheit zu den Akzeptanzproblemen, die die soziale Marktwirtschaft heute nicht nur in Ostdeutschland hat, sondern inzwischen auch im Westen?

Lambsdorff: Das wundert mich nicht, denn wenn man die Bürger fragt, was sie lieber wollen – Freiheit oder Sicherheit –, entscheiden sie sich lieber für die vom Staat gewährte Sicherheit. Das war schon zu Erhards Zeiten so. Politiker müssen deshalb, dies lehrt uns die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft, gelegentlich auch unpopuläre Maßnahmen ergreifen. Ohne Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung geht es nicht.

Schreiner: Im Gegensatz zu Ihnen möchte ich die Menschen so nehmen, wie sie sind. Wenn gerade mal 15 Prozent der Deutschen sagen, dass es in diesem Lande noch sozial gerecht zugeht, muss die Politik doch reagieren. Die sozialen Spaltungsprozesse erreichen allmählich demokratiegefährdende Ausmaße. Es war immer ein Grundkonsens in der Bundesrepublik, dass es einen sozialen Ausgleich gibt.

Lambsdorff: Mit dem Wort „Demokratiegefährdung“ wäre ich vorsichtig nach meiner eigenen Erfahrung. Im Schlusssatz meines Papiers von 1982...

...dem berühmten Wendepapier, das Sie als Wirtschaftsminister verfassten und das das Ende der sozialliberalen Koalition besiegelte...

Lambsdorff: ...habe ich an Bundeskanzler Helmut Schmidt geschrieben, dass wir mit 1,5 Millionen Arbeitslosen dabei seien, die demokratischen Grundlagen dieses Staates zu gefährden. Später haben wir sogar fünf Millionen Arbeitslose gehabt, und trotzdem sah keiner die Demokratie gefährdet.

Wie, wenn nicht mit wirtschaftlichen und sozialen Reformen wie bei der Agenda 2010, wollen Sie auf die Herausforderungen der Globalisierung und Demografie reagieren?

Schreiner: Deutschland gehört grundsätzlich zu den Gewinnern der Globalisierung. Der Export brummt, unsere Maschinen sind in aller Welt gefragt. Die Kehrseite ist, dass die Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten rasant steigen. Weniger gefragt sind die Einfach- und Unqualifizierten. Hier müssen wir ansetzen, um Deutschland zukunftsfest zu machen.

Das heißt also?

Schreiner: Wenn ich an Schröders Stelle Bundeskanzler gewesen wäre, hätte ich Deutschland nicht mit der Agenda 2010 gespalten, sondern über Qualifizierung wieder zusammengeführt. Ich hätte vor zehn Jahren eine große Bildungsreform gestartet. Es ist doch skandalös: Zehn Prozent der Schüler verlassen die Schule ohne Abschluss, 40 Prozent sind es bei den Migrationskindern – mit null Perspektive am Arbeitsplatz. Unsere vorschulischen Einrichtungen sind bestenfalls noch Kinderverwahranstalten. In nahezu allen Bereichen ist unser Bildungssystem nicht auf der Höhe der Zeit. Wegen unserer hinterwäldlerischen Kleinstaaterei haben wir ein Bildungssystem, das nicht mehr die Anforderungen in unserer Arbeitswelt erfüllt.

Lambsdorff: Wir haben doch die Bildungsstandards in den Ländern schon so weit vereinheitlicht, dass es fast gegen den föderalen Geist des Grundgesetzes verstößt. Die Kultusministerkonferenz dagegen reagiert so langsam auf neue Herausforderungen, dass verglichen damit das Reichskammergericht ein Ausbund an modernem Management war. Aber ich gebe Ihnen recht, dass die deutschen Lehrer und Schüler sich gewaltig auf den Hosenboden setzen müssen, wenn sie im Wettbewerb mit den leistungshungrigen Chinesen und Indern nicht zurückfallen wollen.

Wo würden Sie die zusätzlichen Mittel für die Bildung hernehmen, wo kürzen?

Schreiner: Wieso kürzen? Das fällt Ihnen immer gleich ein. Sie können bei der Rente doch gar nicht mehr kürzen. Wir bekommen in den nächsten Jahren eine dramatische Altersarmut. Bald erreichen Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien, die mit Minijobs und Billiglöhnen abgespeist wurden, die Altersgrenze. Woher das Geld nehmen? Der Anteil von Erbschaft-, Schenkung- und Grundsteuer liegt in Deutschland bei 0,8 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, in Großbritannien bei 4,2 und in Frankreich bei 3,6 Prozent. Bei 250 Milliarden Euro Erbschaften, die hier jährlich anfallen, könnten wir, wenn wir französische Standards hätten, das öffentliche Bildungssystem mit 20 Milliarden Euro mehr finanzieren. Das wäre ganz im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft mit Aufstiegschancen.

Lambsdorff: Das ist eine eigenwillige Interpretation von sozialer Marktwirtschaft. Ihnen fallen immer nur mehr Steuern ein.

Schreiner: Aber wir haben doch nur eine Steuerquote von 22 Prozent.

Lambsdorff: Dafür haben wir eine gewaltige Abgabenquote. Und höhere Staatseinnahmen können nicht das Ziel einer dynamischen Volkswirtschaft sein.

Wie schätzen Sie die Zukunftsaussichten unserer sozialen Marktwirtschaft ein?

Schreiner: Der Mittelstand war einmal die tragende Säule der sozialen Marktwirtschaft. Jetzt ist sie die am meisten gebeutelte Gruppe. Die Leute mit 4400 Euro brutto werden mit dem Spitzensteuersatz belastet und zahlen die höchsten Sozialbeiträge. Da sollten wir entlasten. Aber mir leuchtet nicht ein, warum Spitzenverdiener mit mehr als 100 000 Euro Jahreseinkommen in den letzten Jahren entlastet werden mussten. Wir müssen die unsozialen Reformen der vergangenen Jahre zurückdrehen, dann sehe ich wieder eine Perspektive für eine solidarische Gesellschaft.

Lambsdorff: Es wird Sie nicht wundern, wenn ich sage: Wir brauchen noch mehr Agenda 2010. Denn die demografische Alterung ist eine dramatische Entwicklung, die wir mit unserem heutigen Sozialsystemen nicht meistern werden. Aber wenn ich 60 Jahre zurückblicke, als Deutschland in Trümmern lag, und sehe, was wir damals erreichten, halte ich die heutigen Herausforderungen für beherrschbar.

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