Die Abschlusskundgebung der FDP beginnt mit zehnminütiger Verspätung, prescht dann aber im Eiltempo voran: Vier Sprecher, durchschnittlich 20 Minuten Redezeit. Fast die gesamte Spitze der FDP ist vertreten, nur Spitzenkandidat Rainer Brüderle fehlt, er verbringt den Tag vor der Wahl traditionell in seinem Wahlkreis in Mainz. Gisela Piltz, Bundestagsabgeordnete und Kandidatin in Düsseldorf eröffnet den Redereigen. Ihr ist die Nervosität deutlich anzusehen, so dass sie sich direkt einen Freudschen Versprecher leistet: Es sei die Abschiedskundgebung der FDP, gemeint war eigentlich eine Abschlusskundgebung. Die Menge lacht.
Die Stimmung ist aufgeheizt. Immer wieder werden die Reden durch wenig wohlwollende Beiträge gestört: "Lügner" ist zu hören, oder "Die Versprechen werden nach der Wahl sowieso gebrochen". Auf einem Transparent heißt es "FDP Abschiedstour", auf der Rückseite "Phillipp möchte bitte aus dem Kinderparadies abgeholt werden." Als Philipp Rösler, der Vorsitzende der FDP, angekündigt wird, sind Buh-Rufe deutlich zu vernehmen. Für seine durchaus kämpferische Rede erhält er deutlich weniger Applaus als Christian Lindner, Chef der FDP in NRW, und Bundesaußenminister Guido Westerwelle.
Das Wahlprogramm der FDP
Für die FDP gehört ein stabiler Euro zur deutschen Staatsräson. Der Schutz vor Inflation soll ins Grundgesetz. Die Europäische Zentralbank (EZB) müsse unabhängig bleiben. Eine dauerhafte Staatsfinanzierung von Krisenländern durch die Notenpresse sei grundfalsch, ebenso eine gemeinsame Haftung für Staatsanleihen (Eurobonds). Die Bundesbank soll im EZB-Rat bei wichtigen Beschlüssen ein Vetorecht bekommen.
Die FDP bekennt sich als Europa-Partei zur Europäischen Union (EU), die im Licht der Schuldenkrise weiterentwickelt werden müsse. „Am Ende dieser Entwicklung sollte ein durch eine europaweite Volksabstimmung legitimierter europäischer Bundesstaat stehen.“
Die FDP zieht mit der Forderung nach einer Ausweitung von Lohnuntergrenzen in einzelnen Branchen mit besonders niedriger Bezahlung in den Wahlkampf. Die Delegierten des FDP-Parteitags in Nürnberg votierten am Samstagabend nach hitziger Debatte für einen entsprechenden Antrag der Parteiführung. Auf diesen Antrag entfielen 57,4 Prozent der Stimmen.
Den Liberalen geht es insbesondere um solche Branchen, in denen Arbeitnehmer und Gewerkschaften keinen Mindestlohn vereinbaren können, weil die Tarifbindung zu gering ist. Zur Festsetzung der Lohnuntergrenze will die FDP die bestehenden gesetzlichen Instrumente überarbeiten und besser aufeinander abstimmen, mit denen auch in den vergangenen Jahren schon Mindestlöhne vereinbart worden sind. Die Löhne sollen von den Tarifpartnern etwa in einer Kommission „Branche für Branche“ festgelegt werden. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, wie ihn SPD, Grüne und Linke befürworten, lehnt die FDP strikt ab.
Die Liberalen wollen die schwarze Null beim Staatsdefizit erreichen und so schnell wie möglich mit dem Schuldenabbau starten. „Denn weniger Staatsschulden sind der beste Schutz vor Inflation.“
Die FDP lehnt höhere Steuern ab. Im Grundgesetz soll ein Halbteilungsgrundsatz verankert werden. Mehr als die Hälfte des Einkommens über Ertragsteuern an den Staat abzuführen sei leistungsfeindlich. „Deshalb brauchen wir neben der Schuldenbremse auch eine Steuerbremse.“ Falls es Spielräume im Haushalt gibt, tritt die FDP für Entlastungen von Bürgern und Firmen ein. „Unser Ziel bleibt die Entlastung der arbeitenden Mitte.“ Das Steuerrecht soll grundlegend umgebaut werden, am besten in einem Stufentarif. Die Steuerklasse V soll verschwinden. „Die Haushaltskonsolidierung hat allerdings Vorrang.“
Die Folgen heimlicher Steuererhöhungen (kalte Progression) sollen alle zwei Jahre überprüft und bereinigt werden, „damit der Staat sich nicht auf Kosten der Bürger an der Inflation bereichert“.
Hier muss der Parteitag zwischen zwei Varianten entscheiden. In Vorschlag A soll das Splitting beibehalten werden, Kinder sollen schrittweise den gleichen steuerlichen Freibetrag wie Erwachsene bekommen. In Variante B soll das Verfahren zu einem Realsplitting weiterentwickelt werden. Dabei werden Ehegatten und eingetragene Lebenspartner individuell besteuert, können aber jeweils einen Teil ihres Einkommens auf den Partner übertragen, um die Progression abzumildern.
Auch hier konkurrieren zwei Modelle. In Variante A wird eine einheitliche Bemessungsgrundlage nach dem Verkehrswert zusammen mit moderaten Steuersätzen und Freibeträgen vorgeschlagen. „Bei jeder Unternehmensnachfolge muss die Erbschaftsteuer aus den Erträgen erwirtschaftet werden können.“ In Variante B wird gefordert, dass die Länder jeweils allein über die Vorgaben der Steuer entscheiden und Einnahmen nicht beim Länderfinanzausgleich herangezogen werden.
Der 2019 auslaufende „Soli“ soll bereits ab 2014 schrittweise reduziert werden.
Große Finanzkonzerne sollen durch eine gemeinsame europäische Aufsicht kontrolliert werden. Abgelehnt wird aber ein Zugriff auf die deutschen Einlagensicherungs- und Restrukturierungsfonds. „Die deutschen Sparer sollen nicht mit ihrem Geld für das finanzielle Risiko anderer Bankensysteme geradestehen.“ Die FDP ist gegen neue Steuern für die Finanzwelt. Die Anteilseigner von Börsen-Unternehmen sollen mehr Rechte in der Hauptversammlung erhalten, um die Bezahlung der Topmanager zu kontrollieren.
Bei der Energiewende dürfe sich der Staat nicht an steigenden Strompreisen bereichern. Die FDP will deshalb eine Absenkung der Stromsteuer. „Sie soll in dem Umfang gesenkt werden, wie der Bund Umsatzsteuer-Mehreinnahmen durch die steigende EEG-Umlage erzielt.“ Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) zur Ökostromförderung soll für neue Anlagen grundlegend und kostensenkend reformiert werden. Für Altanlagen mit 20-jähriger Fördergarantie gelte aber Bestandsschutz. Rabatte für die Industrie bei EEG-Umlage und Stromsteuer verteidigt die FDP: „Anderenfalls drohen Arbeitsplatzverluste durch Abwanderung der Industrie.“
Die FDP will Sozialleistungen für Bedürftige und Arbeitslose in einem liberalen Bürgergeld zusammenfassen. „Wer sich anstrengt und eine Arbeit annimmt, der soll im Bürgergeldmodell mehr von seinem Einkommen haben.“
Die FDP ist gegen starre Altersgrenzen wie bei der Rente mit 67. Arbeitnehmer sollen ab dem 60. Lebensjahr frei über den Renteneintritt entscheiden, wenn ihre gesamten Ansprüche über der Grundsicherung liegen. Entscheiden muss sich die Partei, ob sie die Einführung einer Rentenversicherungspflicht für Selbstständige will.
Die FDP ist für die volle rechtliche Gleichstellung von Homo-Ehen mit der normalen Ehe. „Wer gleiche Pflichten hat, verdient auch gleiche Rechte.“ Beim Elterngeld soll es mehr Teilzeit-Modelle und Stärkung der Partnermonate geben. Das von der FDP gerade mit eingeführte Betreuungsgeld soll in der nächsten Wahlperiode wieder überprüft werden.
Die FDP will mehr Frauen in Führungsverantwortung, lehnt feste Quoten jedoch ab. „Wir setzen auf Anreize für Unternehmen, verbindliche Berichtspflichten und transparente Selbstverpflichtungen.“
Die FDP betont, Deutschland sei ein Einwanderungsland und brauche Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte. Vorbild soll das Punktesystem in Kanada sein. Eine Einbürgerung soll schon nach vier Jahren möglich sein sowie grundsätzlich auch die doppelte Staatsbürgerschaft. Asylbewerber sollen vom ersten Tag an arbeiten dürfen.
Die FDP lehnt die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab. „Die Menschen in Deutschland dürfen nicht pauschal unter Verdacht gestellt werden.“ Auch die heimliche Online-Durchsuchung sei überflüssig.
Die wertneutrale Datenübertragung soll geschützt bleiben (Netzneutralität). Quelle: dpa
Die Menge wachte lediglich zweimal aus ihrer Lethargie: Zuerst bei Röslers direkten Angriffen auf Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin, der mitnichten, der "gute" Robin Hood sei, sondern bei seinem Raubzug durch die Mitte der Gesellschaft eher der "böse" Räuber Hotzenplotz. "Deshalb darf er nie Verantwortung übernehmen", ruft der Wirtschaftsminister in die lachende Menge. Und als er auf der Bühne minutenlang eine Liste mit Verboten, etwa das Verbot von Plastiktüten oder das Verbot von Heizpilzen rezitiert - ein erneuter Angriff auf die Grünen. Das ist es, was die Menschen in Düsseldorf hören wollen, damit sammelt Rösler Punkte - mit seiner Forderung nach Freiheit und der Möglichkeit des eigenständigen Denkens und Handelns.
Auf der Bühne auch ein junger Mann aus dem Rheinland: Mit gerade einmal 23 Jahren kandidiert Moritz Körner als Direktkandidat für die FDP im Kreis Mettmann. Eines seiner Hauptanliegen ist die Generationengerechtigkeit: Es müsse endlich effektiv gespart werden, um damit neue Handlungsspielräume für zukünftige Aufgaben zu eröffnen, schreibt er auf seiner Internetseite. Es ist überhaupt auffällig, wie viele sehr junge Kandidaten bundesweit für die Liberalen kandidieren - in Berlin und in der Nähe von Aachen wollen mit Linus Stielfdorf und Linus Vollmar zwei 18 Jahre alte Politiker in den Bundestag einziehen.
Keine Spur von Zweitstimmen-Wahlkampf
Allerdings schafft es die FDP an diesem Samstag nicht nur zu polarisieren, sondern auch Menschen zu mobilisieren. Der Heinrich-Heine-Platz in der Düsseldorfer Altstadt ist voll, auch an den Rändern drängen sich noch viele Menschen, um einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Spannend waren vor allem Themen, die nicht angesprochen wurden, wie etwa die Zweitstimmenkampagne. Von einem offensiven Werben der Stimmen aus dem konservativen Lager keine Spur - einzig Guido Westerwelle bat um die Zweitstimme für die FDP.
Der Bundesaußenminister appellierte in seiner Rede an die Bürger, wählen zu gehen: Es sei eine Ohrfeige für Millionen Menschen weltweit, die gerne ein einziges Mal in ihrem Leben wählen gehen würden, das aber nicht dürfen. Demokratie brauche auch Demokraten, mahnte Westerwelle und freute sich dabei sogar über ein Plakat auf dem es hieß: "Do not trust in Guido" - "in was für einem tollen Land wir doch leben, in dem jeder seine Meinung sagen darf."
Offensiv warb er für ein Bündnis von Union und FDP als ein Garant für Toleranz: "Dass ich meinen Partner nicht mehr verstecken muss, das betrachte ich als großen Fortschritt für die Liberalität unserer Gesellschaft", sagte Westerwelle auf der Abschlusskundgebung. Für seine ungewöhnlich starke Rede erhält er wieder und wieder auch Zwischenapplaus.
Westerwelle scheint versöhnt mit seiner Rolle in der Partei und im Land - und er hat sichtlich Spaß am Wahlkampf und schafft dabei das, was Philipp Rösler nicht kann: Die liberale Botschaft in knappen Worten so zu vermitteln, dass sie direkt in den Köpfen der Menschen ankommt und dort bis Sonntag vielleicht auch noch etwas bewegt.