Herr Lucke, wieso hört man so wenig von der AfD in den letzten Wochen?
Das liegt nicht an uns. Wir äußern uns täglich zur politischen Lage, doch die Aufmerksamkeit der Medien liegt stark auf der Regierungsbildung. Deswegen werden wir derzeit weniger wahrgenommen als wir das wünschen. Denn mit Blick auf den Koalitionsvertrag der Großen Koalition wäre es dringend geboten, auch kritische Stimmen zu hören.
Was stört Sie an den Plänen der Großen Koalition?
Die grundsätzliche Richtung bereitet mir Sorgen. Die getroffenen Vereinbarungen beruhen auf klassischer sozialdemokratischer Ideologie und sind keine Grundlage für eine vernünftige Wirtschaftspolitik. Das fängt mit den Wohltaten in der Rentenpolitik an, die nicht nachhaltig finanziert sind, und hört mit dem Unsinn eines flächendeckenden, einheitlichen Mindestlohns auf.
Was Ökonomen zum Koalitionsvertrag sagen
"Die Koalitionsvereinbarungen sind geprägt von dem Willen der Parteien, die Lebensverhältnisse in den nächsten vier Jahren zu verbessern. Dazu gehören der Mindestlohn sowie die Erhöhung des Wohngeldes, um Einkommensschwachen angesichts steigender Mieten zu helfen. Wichtig sind auch die neuen Mechanismen bei der Energiewende, um die Kosten zu dämpfen. Was mir fehlt: Gegen die Investitionsschwäche wird zu wenig unternommen. Das gravierende Problem in Deutschland ist die private Investitionsschwäche. Da hätte man ansetzen müssen - etwa durch bessere Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen. Das größte Defizit aber ist die Frage der europäischen Integration. Da gibt es ein Festhalten am Durchwursteln. Die große Koalition hat die historische Chance verpasst, Europa voranzubringen - nämlich in Richtung einer Fiskalunion und einer politischen Integration. Damit hätte sie die EZB aus der undankbaren Rolle des Stabilisators herausnehmen können. Der Status quo ist keine dauerhaft stabile Architektur in Europa. Hier hat die große Koalition eine große Chance verpasst."
"Dieser Koalitionsvertrag bedeutet nicht so furchtbar viel für den Standort Deutschland. Die Dinge, die nach vorne zeigen, wie etwa das Investitionsprogramm, reichen nicht aus. Die 23 Milliarden an Investitionen für vier Jahren sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Fortschritte sehe ich auf dem Arbeitsmarkt und bei der Rente. Die Einführung eines Mindestlohn ist längst überfällig. Die Übergangsfrist ist vertretbar. Positiv ist auch, dass die Altersarmut angegangen werden soll. Bedenklich ist jedoch, dass die Mütterrente aus dem Rentensystem finanziert werden soll. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus dem Steuersystem finanziert werden muss. Eine Katastrophe ist, dass die bisherige Europapolitik fortgesetzt wird. Das ist ein schlechtes Signal für den Kontinent. Ich hätte mir gewünscht, dass die Sparpolitik gelockert wird und Alternativen dazu entwickelt werden. Das ist nicht geschehen. Hier bleibt alles in der Hand der Bundeskanzlerin. Die SPD kann hier keinerlei Akzent setzen. Das ist sehr, sehr bedauerlich."
"Das Wichtigste: Sofern die SPD-Basis zustimmt, bekommt Deutschland eine stabile und handlungsfähige Regierung. Das ist positiv. Das Wichtigste für die Finanzmärkte ist, dass die erfolgreiche deutsche Europa-Politik fortgesetzt wird - also Unterstützung für die Krisenstaaten im Gegenzug für Reformen. Der Staat wird zwar etwas mehr ausgeben, dürfte es aber trotzdem schaffen, sowohl den Stabilitätspakt als auch die Schuldenbremse einzuhalten. Die Energiewende dürfte etwas pragmatischer und damit für Haushalte wie für Unternehmen erträglicher gestaltet werden. Negativ ist die Rolle rückwärts am Arbeitsmarkt. Das wird im Aufschwung wohl nicht schaden, aber im nächsten Abschwung. Es schwächt die Glaubwürdigkeit Deutschlands, wenn es Reformen in den Krisenländern fordert, die eigenen aber aufweicht."
"Deutschland wird die Agenda-Reformen massiv zurückrollen. Der Wirtschaftsweisen haben zurecht darauf hingewiesen, dass das langfristig die Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft verschlechtert. Trotzdem erwarte ich, dass die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren schneller wachsen wird als der Rest des Euro-Raums. Denn nach der Einführung der Agenda-Reformen hat es auch viele Jahre gedauert, bis die positiven Effekte wirksam wurden. Das Gleiche gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die jetzigen wirtschaftspolitischen Beschlüsse. Außerdem wird das Wachstum in Deutschland zunehmend angefacht für die für uns viel zu niedrigen EZB-Leitzinsen, die beispielsweise die Immobilienpreise und andere zinssensitive Ausgaben steigen lassen."
"Leichten Rückenwind hat der Euro heute Morgen vom Ergebnis der schwarz-roten Koalitionsverhandlungen erhalten. Allerdings haben nicht wirklich viele mit einem Scheitern der Verhandlungen in letzter Minute gerechnet. Nun aber ist auch der letzte Funken Unsicherheit, der nach dem Wahlausgang im September herrschte, verflogen. Deutschland hat zeitnah eine neue Regierung. Ein Restrisiko bleibt noch mit dem SPD-Mitgliedervotum, aber auch dieses dürfte wohl einen positiven Ausgang nehmen."
"Das ist kein Kompromiss. Union und SPD haben sich gegenseitig ihre Wünsche erfüllt. Bei einer Umsetzung der Beschlüsse in dieser Form werden die Sozialversicherungsbeiträge kräftig steigen. Ich gehe aber fest davon aus, dass die SPD-Basis den Vertrag ablehnen wird."
Was ist so schlimm daran, dass alle Menschen von ihrer Arbeit leben können?
Ich bin sehr für den sozialen Ausgleich. Aber der Mindestlohn ist die Entsolidarisierung des Staates gegenüber den geringqualifizierten Arbeitnehmern. Hier lässt der Staat die Unternehmen, die Arbeitsplätze für Geringqualifizierte anbieten, allein und sagt: Den sozialen Ausgleich finanziert nicht etwa der Staat sondern Ihr – durch den Mindestlohn. Der Staat zieht sich aus seiner sozialpolitischen Verantwortung zurück. Die Unternehmen, die keine geringqualifizierten Arbeitnehmer beschäftigen, sind ebenfalls fein raus. Belastet werden gerade die Unternehmen, die Arbeitsplätze für Niedrigqualifizierte anbieten! Da liegt es auf der Hand, dass man darüber nachdenken wird, ob man auf diese Arbeitskräfte verzichten kann. Der Mindestlohn ist wie eine Subvention, die durch eine Steuer auf Arbeitsplätze für Geringqualifizierte finanziert wird. Ein einheitlicher, flächendeckender Mindestlohn ist wirtschaftspolitisch falsch, weil er Arbeitsplätze zerstört, und in sozialpolitischer, familienpolitischer und in bildungspolitischer Hinsicht ist der Mindestlohn eine Kapitulationserklärung des Staates.
Das müssen Sie erklären.
Der Mindestlohn ist das Eingeständnis, dass manche Menschen in Deutschland so schlecht ausgebildet wurden, dass sie nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen können. Das ist die Schuld von Familien, die sich nicht genug um Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder gekümmert haben und die Schuld des Staates, der dringend das Schul- und Ausbildungssystem verbessern müsste. Übrigens ist ein Mindestlohn auch sozialpolitich nicht sehr sinnvoll, denn es kommt ja nicht auf den Lohn sondern auf das Einkommen eines Menschen an. Was nützt es, wenn der Lohn steigt, die Unternehmen aber die Stundenzahl der Mitarbeiter reduzieren? Viele Geringqualifizierte arbeiten doch jetzt schon nur stundenweise in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Wenn das weniger Arbeitsstunden werden, kann das Einkommen sinken, auch wenn der Stundenlohn steigt.
Wie es jetzt mit der Regierungsbildung weitergeht
In einer gemeinsamen Sitzung in München wollen CSU-Vorstand und -Bundestagsgruppe den Vertrag billigen
Geplante Abstimmung der knapp 475.000 SPD-Mitglieder
Ein kleiner CDU-Parteitag (Bundesausschuss) soll in Berlin über den Vertrag abstimmen
Die Briefe der SPD-Mitglieder werden - von der Post in Urnen versiegelt - aus ganz Deutschland nach Berlin gebracht
Hunderte Helfer zählen die Briefe aus. Bis zum Abend soll das Ergebnis vorliegen
Bei einer Zustimmung könnte Angela Merkel (CDU) im Bundestag zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt werden. Das neue schwarz-rote Kabinett würde am selben Tag die Arbeit aufnehmen.
Haben Sie eine bessere Idee, um Geringverdienern zu helfen?
Einer solidarischen Gesellschaft müsste die Bezieher niedriger Einkommen aus dem allgemeinen Steueraufkommen unterstützen, statt nur die Unternehmen zu belasten, die Arbeitsplätze für Niedrigqualifizierte anbieten. Das würde eine Reform des Steuerrechts erfordern: Wer wenig verdient, erhält Einkommenszuschüsse statt Steuern zahlen zu müssen. Statt nur Freibeträge zu gewähren, die niedrige Einkommen von der Steuer verschonen, würde man im untersten Einkommensbereich Zuschüsse zahlen. Das könnte direkt mit der Lohnabrechnung ausgezahlt werden und mindert die Lohnsteuerschuld des Unternehmens. Ein Vorteil wäre, dass diese Unterstützung unter der Bedingung gezahlt wird, dass die Empfänger arbeiten. Finanziert werden kann sie durch entsprechende Einsparungen bei Hartz IV – eine Unterstützung, die man bekommt unter der Bedingung, dass man nicht (oder jedenfalls nicht viel) arbeitet.