AfD im Ruhrgebiet Guido Reils Rachefeldzug gegen die SPD

2016 wollte Guido Reil Vize-Chef der Essener SPD werden. Doch er verlor. Nun will er es NRW-Justizminister Thomas Kutschaty als AfD-Landtagskandidat heimzahlen.

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AfD-Landtagskandidat Guido Reil Quelle: dpa

Guido Reils Finger vibrieren, wenn er über Thomas Kutschaty redet. Wild wirbeln sie durch die Luft, sein Gesicht läuft rötlich an. "Für den Thomas habe ich mir damals den Arsch aufgerissen – und dann so was", wettert er. Guido Reil: 1,92 Meter, vielleicht 100 Kilo, Jeans. Seine Stimme tobt, während er die Worte formt.

Thomas Kutschatys Finger ruhen, wenn er über Guido Reil redet. Wie von einem Magneten angezogen verharren sie über seinen Oberschenkeln. Die Mundwinkel zeichnen ein mildes Lächeln. "Ach, der Guido", sagt er. Thomas Kutschaty: 1,72 Meter, schlank, schwarzer Anzug. In seiner Stimme liegt Spott.

Guido Reil und Thomas Kutschaty: Der eine Bergmann mit Hauptschulabschluss, Jahrzehnte unter Tage geschuftet, jetzt Zeuge, wie seine Branche unaufhaltsam stirbt. Der andere Jurist mit Staatsexamen, derzeit NRW-Justizminister. Kaum etwas verbindet Reil und Kutschaty. Aber über Jahre gab es einen gemeinsamen Nenner, auf den sie sich immer verständigen konnten: ihre Partei, die SPD. Das ist vorbei. Guido Reil hat die SPD aus Protest verlassen, er kämpft nun für die AfD. Bei der kommenden Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen will er sich an den Genossen rächen. In Essen-Karnap tritt er gegen Thomas Kutschaty an.

Es ist ein Duell, in dem sich vieles widerspiegelt: der Groll der Menschen auf „die da oben“, der Aufstieg der AfD, die Frage, wie volksnah ein erfolgreicher Politiker sein muss. Am Ende aber ist das Duell auch ein Gefecht, bei dem es um Eitelkeiten geht, um enttäuschte Erwartungen, um Rache – und eine alte Liebe.

Und es ist viel Aggression im Spiel: Vor wenigen Tagen haben Unbekannte den Wagen seiner Frau demoliert und sein Haus mit den Parolen "Fuck AfD" und "Arbeiterverräter" besprüht.

An einem grauen Vormittag baut Reil vor dem Rewe-Markt in Essen-Karnap mit ein paar AfD-Kollegen einen Grill und einen Einkocher auf. Ohne Bratwürste kein Wahlkampf, so hat er es bei der SPD gelernt. Nur wenige Passanten sind auf der Straße, aber Reil ist das egal, die schwarze Jacke flattert offen im Wind. So steht er am Grill und wartet auf die Menschen, mit deren Stimme er Thomas Kutschaty zeigen will, wer hier oben im Essener Norden das Sagen hat.

Während er Bratwürste in Brötchen bettet, lauscht er den Sorgen einiger Karnaper. Die Rente: zu niedrig. Die Politiker: zu hochnäsig. Die kleinen Leute: zu wenig gehört. Und dann erst die Flüchtlingspolitik, diese vermaledeite Flüchtlingspolitik. Dazwischen diskutiert Reil mit seinen neuen Parteikollegen über die richtige Wahlkampfstrategie, darüber, dass er in der AfD eine Arbeitnehmervereinigung aufbauen will. Auf einmal pirscht sich von hinten eine Dame heran, rosarot gefärbte Haare, vielleicht 65 Jahre alt. "Herr Reil, Herr Reil", ruft sie, aber Herr Reil hört die Frau nicht. Er will seine Parteikollegen gerade überzeugen, wie wichtig das Soziale für die AfD ist. Nach zwei weiteren Herr-Reil-Rufen hat die Frau endlich seine Aufmerksamkeit. Ob er nicht auch mal nach Altenessen kommen könne, fragt sie. Dort lebe sie, und dort sei es noch viel schlimmer als hier. Ausländer wohin man auch schaue.

Wie Reil umschwenkte

Es ist ein heikler Moment für Reil. Er ist kein Ausländerhasser, das betont er immer wieder. Seine Frau ist Russin, unter Tage arbeitet er seit Jahrzehnten mit Türken, Italienern, Polen zusammen. Das seien alles gute Jungs, sagt er. Aber Reil spürt, was die Menschen umtreibt. „Ich weiß, ich weiß“, sagt er zu der Frau. Ein paar Minuten wütet sie auf ihn ein. Dann geht es um Flüchtlinge, die angeblich vor dem Essener Allee-Center onanieren. Jeder wisse das, sagt die Frau. Reil sagt: „Ja, nur traut sich wieder keiner, das auszusprechen."

Vor einem Jahr trat Guido Reil aus der SPD aus. Monatelang waren damals Tausende Menschen nach Deutschland geflüchtet. Reil spürte, dass das alles zu viel wurde für ihn, all diese Menschen, wo sollten die denn hin?

Die Stadt Essen entschied zu dieser Zeit, Hunderte Flüchtlinge in Karnap unterzubringen. Reil schäumte. Wieso ausgerechnet Karnap? Seine Heimat, in der doch ohnehin schon jeder Dritte der 8.000 Einwohner Migrationshintergrund hatte? Warum schon wieder der Essener Norden, der ohnehin mit Armut und sozialen Spannungen kämpft? Zusammen mit anderen SPD-Leuten organisierte er eine Demo gegen die Unterbringung der Flüchtlinge im Essener Norden. Die SPD-Landesregierung aus Düsseldorf pfiff die SPD-Querulanten zurück.

Diese Geschichte ist oft erzählt worden, sie gilt als Erklärung, warum Reil seine Sozialdemokraten nach mehr als einem Vierteljahrhundert verließ. Seit einem Jahr zieht Reil mit ihr durch die Medien. Markus Lanz, Hart aber Fair, die ZEIT: "Herr Reil schwenkt um". Es ist keine falsche Geschichte, aber sie ist nur ein Teil der Wahrheit. Der andere Teil hat mit Thomas Kutschaty zu tun.

Anfang 2016. Reil gibt der größten Regionalzeitung WAZ ein Interview. Er teilt kräftig aus: gegen die Libanesen in Karnap, gegen gescheiterte Integration, gegen die eigene Partei. Ein paar Tage später ist er bundesweit bekannt. Schnell wendet sich die Essener SPD-Spitze von ihm ab. Das stachelt Reil nur noch mehr an, er hat viele Unterstützer an der Basis, die Spaltung der Essener SPD droht. In dieser Gemengelage kandidiert er für den Vize-Vorsitz der Essener SPD.

Am 7. Mai 2016 kommt es zum Showdown auf dem SPD-Parteitag. Reil ist angespannt, er hat ein Interview nachgeschoben, in dem er seine Vorwürfe erneuert – und Thomas Kutschaty persönlich angreift. Kutschaty sei weichgespült, keine Führungsfigur. Am Morgen des Parteitages kursiert das Interview, viele finden, dass Reil zu weit gegangen ist. Noch vor Beginn des Parteitages entschuldigt sich Reil bei Kutschaty. Aber Kutschaty will nun die Machtprobe – und gewinnt. Die Delegierten strafen Reil ab, nur 21,5 Prozent stimmen für ihn.

Diese Polit-Promis mussten ihre Partei verlassen
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Bis heute nagt diese Niederlage an Reil. Vor allem Kutschaty kann er nicht verzeihen. Reil interpretiert dessen Sieg als Triumph des Establishments über einfache Parteikämpfer wie ihn. Als Sieg der Political Correctness über Tatsachen, die man aussprechen muss. Als Metapher auf das, was seiner Meinung nach schief läuft in der Gesellschaft: "Die Leute an der Basis", sagt er, "die sollen schön malochen - und sonst die Fresse halten." Im Rückblick, erzählt Reil, habe er sich in der SPD zuletzt wie ein eingesperrter Tiger gefühlt. In seinen Reden laufe er deswegen noch immer wie in einem Käfig hin und her. "Jetzt aber ist der Tiger frei", sagt Reil. "Jetzt will der Tiger Sozis jagen."

Eigentlich noch immer Sozialdemokrat?

Der Sozialdemokrat, den Guido Reil vor allem jagen will, sitzt im Foyer des Düsseldorfer Landtages und legt ein selbstgewisses Lächeln auf. Bis vor ein paar Minuten hat Thomas Kutschaty als Justizminister im Plenum gesessen und Fachdiskussionen gelauscht. Jetzt will er als Essener SPD-Chef die Sorge zerstreuen, die AfD könne seiner Partei im Ruhrgebiet gefährlich werden. Und eine Geschichte über Guido Reil erzählen, das will er auch.

Zuerst die AfD: Die sei ein normaler Mitbewerber, so wie jede andere Partei. Es stimme: die AfD habe der SPD in einigen Landtagswahlen Stimmen abgenommen. In Wahrheit aber sei die AfD eine Gefahr für die ländliche CDU - nicht für seine SPD. Schon gar nicht im Ruhrgebiet. Sein Pressesprecher hat ihm für diese These ein paar hübsche Zahlen herausgesucht. In Karnap liegt Kutschaty vorne. Er lächelt: "Mein Vorsprung ist okay."

Während Guido Reil in seiner Sprache Wörter wie "dat" oder "wat" verwendet und "so eine Krawatte" hat, wenn er sauer ist, wirken die Sätze von Kutschaty wie auf Hochglanz poliert. Er läuft damit Gefahr, abgehoben zu wirken, genau so wie Reil es ihm vorwirft. Genossen aus der Essener SPD aber sagen, dass Kutschaty die zerstrittene Partei befriedet habe. Elitäres Gehabe wirft ihm kaum jemand vor. Für Kutschaty ist Reils Wechsel zur AfD vor allem durch Rachegelüste getrieben, durch persönliches Karrierestreben - und durch Unzufriedenheit mit sich selbst. Das belege spätestens der peinliche Auftritt Reils auf dem SPD-Parteitag.

Reil sagt heute, er wisse selbst nicht mehr, was ihn damals auf die Bühne getrieben habe. Er würde den Auftritt am liebsten vergessen. Vielleicht legt er sich deswegen so ins Zeug.

Als er Ende März 2017 im saarländischen Wahlkampf auftritt, trägt er ein schwarzes Hemd mit schwarzem Sakko, dazu Brille mit schwarzem Rand. Es ist kein rebellisches Outfit, eher eines wie es linke Intellektuelle gerne tragen. Als erstes sagt Reil, dass er stolz sei auf derselben Bühne reden zu dürfen wie Frauke Petry und Albrecht Glaser, das seien ja ganz andere Persönlichkeiten als er.

Es ist eine leidenschaftliche Rede. Reil eifert gegen Schulz, gegen die Regierung, gegen Migranten. Er sagt, man dürfe Schulz nicht wegen seiner Jugendsünden abkanzeln, das mache ihn ja gerade symphytisch, sondern wegen seiner Zeit in der EU. Dann spricht er über die Axt-Attacke eines psychisch gestörten Mannes im Düsseldorfer Hauptbahnhof: „Da haben sich wohl ein paar kanadische Holzfäller unter die Flüchtlinge gemischt.“ Der Saal johlt.

Ein paar Wochen vor Reils Rede tritt Thomas Kutschaty in Essen-Altenessen auf. Seine SPD hat zum politischen Aschermittwoch in die Stauder-Brauerei geladen. Vorne auf der Bühne trällern die "All in Voices" alte Klassiker, hinter der Theke fließt Bier. Dunkles Holz, vertäfelte Wände, Wimpel an den Wänden. Auf den Tellern liegen Frikadellen mit Kartoffelsalat. Es ist eine Welt, in der sich auch Guido Reil wohlfühlen könnte.

Kutschaty wartet an der Eingangstür. Jeder der sich heute Abend sein Freibier abholen will, muss an ihm vorbei – und wird mit einem Handschlag begrüßt. Als der Raum voll ist, schlängelt er sich durch die Reihen. Händeschütteln hier, fürs Foto aufstellen dort, Smalltalk mit dem Stauder-Chef, Politiker-Alltag. Irgendwann schlendert er auf die Bühne, Eröffnungsrede, ein bisschen das SPD-Herz aufwärmen.

An den Stehtischen diskutieren die Genossen nach der Rede über Martin Schulz, das Wahljahr und die AfD. Eine der Genossinnen ist seit mehr als zwei Jahrzehnten in der SPD – und möchte beim Thema Guido Reil lieber anonym bleiben. Sie ist eine der wenigen, die noch Kontakt zu ihm hält.

Der Guido, sagt sie, sei vielleicht nicht die hellste Leuchte auf Gottes Christbaum. Aber er sei ein ehrlicher Typ, hilfsbereit, das Herz am richtigen Platz, eigentlich noch immer Sozialdemokrat. Die Genossin hat ihre eigene These zu Reil aufgestellt. Sie glaubt, dass sie ihn "verarschen" bei der AfD. "Denen kann doch nichts Besseres passieren", sagt sie. "Und hier bei uns, in der SPD, da fehlen so Leute wie er."

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