Analyse zum Anschlag in Berlin Ohnmächtig gegen den Terror?

Ein Einzeltäter steuert den Todes-Lkw in Berlin und hinterlässt eine Spur des Schreckens. Die Politik fordert schärfere Sicherheitsvorkehrungen. Es gibt aber kaum präventive Mittel. Israel macht vor, was man tun kann.

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Der Todes-Lkw in der Nähe der Gedächtniskirche in Berlin. Quelle: dpa

Berlin Wo der Staat steht, wenn es um den Kampf gegen den Terror unkalkulierbarer Einzeltäter geht, brachte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) vor wenigen Monaten auf den Punkt. Damals, Ende Juli, trat der Minister vor die Presse, um das Axt-Attentat von Würzburg zu kommentieren. Und er zog ein ernüchterndes Fazit. Der Staat versuche alles, um die Bürger vor Terror zu schützen, sagte de Maizière. „Eine Garantie dafür, dass es gelingt, Anschläge immer und überall zu verhindern, gibt es aber trotzdem leider nicht.“

Dass es so schnell zu einem weiteren, noch viel schlimmeren Anschlag mit 12 Toten und mehr als 40 Verletzten kommen würde, hatte er sicher nicht erwartet. Bei dem mutmaßlichen Täter, der gestern Abend einen Lastwagen mit hoher Geschwindigkeit in die Menschenmenge auf dem Gelände des Weihnachtsmarktes an der Gedächtniskirche gesteuert hatte, könnte es sich laut Medienberichten um einen Flüchtling handeln. Er soll den Ermittlern wegen kleinerer krimineller Delikte bekannt gewesen sein. Der Mann bestreitet die Tat. Und die Behörden sind inzwischen alles andere als sicher, ob er der wahre Täter ist.

Nach aktuellen Erkenntnissen stammt der Festgenommene aus Pakistan. Der Mann soll am 31. Dezember 2015 in einer Gruppe von etwa 15 Flüchtlingen nach Deutschland eingereist sein. Seine Personalien wurden von der Bundespolizei im bayerischen Passau aufgenommen. Am 19. Februar habe er dann in Berlin einen Asylantrag gestellt. Im Asylverfahren sei der Mann laut Berichten als renitent aufgefallen, er sei zu Anhörungen nicht erschienen und habe erklärt, er verstehe die deutsche Sprache nicht.

Für möglich gehalten wird inzwischen aber auch, dass der Festgenommene nicht der Attentäter ist, sondern dieser noch auf freiem Fuß ist. Berlins Polizeipräsident Klaus Kant sagte am Dienstagmittag, es sei unsicher, ob der festgenommene junge Mann aus Pakistan tatsächlich am Steuer saß. Laut Berichten der „Welt“ geht die Berliner Polizei sogar explizit davon aus, dass es sich bei dem Festgenommenen nicht um den Todesfahrer handelt. Das habe die Zeitung aus Sicherheitskreisen erfahren. Die Angaben des mutmaßlichen Täters sind demnach überprüft und als korrekt erachtet worden. „Wir haben den falschen Mann“, soll ein Berliner Beamter gesagt haben. Der wahre Täter sei auf freien Fuß. Die Bereitschaftspolizei der Hauptstadt und die Spezialkräfte seien informiert. Ob von einem Netzwerk gesteuert oder nicht, dürfte gesuchte Terrorist, so die Annahme in Sicherheitskreisen, den Lkw alleine gelenkt haben.

Einzeltäter, die sich womöglich im Stillen radikalisieren und bis zu einem Anschlag nicht auffallen, bereiten den Sicherheitsbehörden seit langem Sorgen. Neben möglichen Rückkehrern aus Dschihad-Gebieten oder ausländischen Kämpfern, die gezielt für einen Anschlag ins Land geschleust werden, sehen Polizei und Geheimdienste solche „einsamen Wölfe“ als besondere Gefahr

Ein Einzeltäter war beispielsweise Arid Uka, der im März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschoss und zwei weitere schwer verletzte. Es war der erste islamistische Anschlag auf deutschem Boden. Uka war kein Mitglied einer Terrorgruppe, sondern handelte allein. Die Sicherheitsbehörden sind in solchen Fällen relativ machtlos. „Wir können nicht in die Köpfe solcher Leute hineinschauen“, geben Experten unumwunden zu.

Neue Qualität des Terrors


Dahinter steht eine neue Qualität des Terrorismus: Nicht vernetzte, unauffällige Täter, die sich extrem schnell radikalisieren und mit alltäglichen Gegenständen an unverdächtigen Orten eine Spur des Schreckens hinterlassen. Dagegen gibt es kaum präventive Mittel.

Gerade bei Einzeltätern, die sich erst vor ein paar Wochen oder gar Tagen radikalisiert hätten, sei es kaum möglich, zu entsprechenden Erkenntnissen zu kommen und Anschläge im Vorfeld zu verhindern, skizzierte einmal der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Oliver Malchow, die Herausforderung für die Sicherheitsbehörden.

Die Schwierigkeit besteht darin, dass solche Einzeltäter im klassischen Sinne nicht in Netzwerke eingebunden sind, keinen konkreten Instruktionen folgen und ihre Pläne nicht vorher mit anderen teilen. Das macht es Polizei und Geheimdiensten besonders schwer, ihnen auf die Spur zu kommen. Im Fall des Berliner Anschlags ist noch nicht geklärt, ob der Täter in die Kategorie der einsamen Wölfe fällt.



Seit einiger Zeit häufen sich aber auch Fälle von Einzeltätern, die zwar alleine Anschläge ausführen oder vorbereiten, dabei aber Anweisungen folgen – also gesteuert werden, etwa von Mitgliedern der Terrormiliz IS. „Sorge bereitet uns ein neuer Tätertypus, bei dem es sich nur scheinbar um Einzeltäter handelt“, sagte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen kürzlich. „Diese Attentäter werden virtuell aus dem Ausland über Instant Messaging ferngesteuert.“

Solche Kontakte wurden etwa bei den Attentätern von Ansbach und Würzburg festgestellt. Der eine sprengte sich auf einem Platz vor einem Musikfestival in die Luft und verletzte 15 Menschen. Der andere ging mit Axt und Messer in einer Regionalbahn auf Fahrgäste los und verletzte mehrere Passagiere. Beide waren Flüchtlinge – und hatten zuvor wohl über Chats Instruktionen und „Ratschläge“ von IS-Leuten bekommen, wie sie am besten vorgehen sollten.

Ob das im Berliner Fall auch so abgelaufen ist, lässt sich derzeit nicht sagen, die Ermittlungen laufen. Gleichwohl wirft die Attacke auf den Weihnachtsmarkt ein Schlaglicht auf ein weiteres Problem, mit dem sich die Sicherheitsbehörden konfrontiert sehen – das Flüchtlingsthema.

Wie seinerzeit der Würzburger Angreifer könnte der Berliner Täter als Flüchtling getarnt nach Deutschland gekommen sein – doch das sind bislang nur Spekulationen. Trotzdem stellen viele hochrangige Politiker diesen Zusammenhang her – wie der bayrische Ministerpräsident. „Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu ausrichten“, erklärte CSU-Chef Horst Seehofer am Dienstag in München. Das bayerische Kabinett werde ab 16 Uhr auf einer Sondersitzung über die Sicherheits- und Flüchtlingspolitik in Deutschland beraten. Innenminister Thomas De Maiziere (CDU) betonte zwar stets, dass die Anschlagsgefahr unabhängig von den Flüchtlingen hoch sei. Allerdings wollte er auch nicht einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingen und Terrorismus ausschließen.

„Mit einem Nizza reloaded musste gerechnet werden“


Sicherheitsexperten, wie der stellvertretende Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamten (BDK), Ulf Küch, wiesen in dieser Hinsicht auch darauf hin, dass mit dem Flüchtlingsstrom viele Personen unregistriert ins Land gelangt seien. „Da sind mit Sicherheit etliche labile Gestalten dabei, die sich aus einer Endzeitstimmung heraus zu solchen Terrorattacken hinreißen lassen“, sagte Küch vor einiger Zeit dem Handelsblatt. Er riet seinerzeit dazu, Flüchtlingen eine „sinnvolle Beschäftigung“ zu geben, damit sie nicht erst auf den Gedanken kämen, in den kriminellen Bereich abzurutschen. „Wir müssen uns besser und intensiver um diese Leute kümmern.“

Doch auch wenn sämtliche Defizite aufgearbeitet würden, könnte die Polizei für absolute Sicherheit nicht garantieren. Gleichwohl kommt der Anschlag in Berlin und seine Machart auch nicht gänzlich überraschend. „Mit einem Nizza reloaded musste gerechnet werden. Zumal dieses Anschlagsszenario vom sogenannten Islamischen Staat propagiert wird“, sagt der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause, im Interview mit dem Handelsblatt. „Der IS sagt ganz klar, dass man jedes Mittel nutzen soll, um Ungläubige zu töten. Lastwagen werden explizit empfohlen.“

Dass Anschläge von Einzeltätern wie in Nizza und Würzburg eine „bevorzugte Taktik“ der IS-Terrormiliz sowie auch von Al-Qaida sind, hatte vor Monaten auch schon die EU-Polizeibehörde Europol erklärt. „Beide Bewegungen haben mehrfach Muslime in westlichen Ländern aufgerufen, individuelle Anschläge in ihrem Wohnland zu verüben“, hieß es damals in einer Analyse.

Krause hält jedoch eine erneute Diskussion der Flüchtlingsfrage für nicht zielführend. „Viel wichtiger ist es, sich über präventive technische Maßnahmen Gedanken zu machen“, betonte der Politik-Professor. „Dieser Anschlag hätte verhindert werden können, wenn der Breitscheidplatz durch Betonblöcke gesichert gewesen wäre.“

Er würde sogar solche Plätze generell mit Pollern absichern. In Israel sei es gang und gäbe, öffentliche Plätze auf diese Weise zu schützen. In Deutschland sei dies bislang vernachlässigt worden. Krause hält generell Anschläge auf alle weichen Ziele für möglich. „Deshalb“, so sein Vorschlag, „müssen alle Fußgängerzonen in den deutschen Großstädten daraufhin überprüft werden, ob es Möglichkeiten gibt, Anschläge zu verhindern.“

Hier seien die Länder und die Kommunen gefordert. „Ich würde mir aber auch wünschen, dass der Bundesinnenminister deutlich zum Ausdruck bringt, dass hier mehr zur Verhinderung von Anschlägen gemacht werden muss.“ Dazu gehörten auch technische Mittel, die es erlauben, Anschläge aufzuklären, wie Videokameras an öffentlichen Plätzen.

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