Angela Merkel Die Kanzlerin gibt den Deutschen, was sie wollen

Lange schwieg sie, nun verbreitet sie unbegrenzten Optimismus. Kanzlerin Merkel hat sich an die Spitze der Flüchtlingsbewegung gesetzt, weil sie ganz genau versteht, was ihre Bürger wollen.

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Ein Migrant macht ein Selfie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Quelle: REUTERS

Ist das ein und dieselbe Frau? Als Angela Merkel bei einem Bürgerdialog Mitte Juli in Rostock auf ein Mädchen aus dem Libanon traf, das in Tränen ausbrach ob der Aussicht, nicht in Deutschland bleiben zu dürfen, sprach sie, leider könne Deutschland ja nicht alle Flüchtlinge aufnehmen.

Nun, rund sechs Wochen später, sagt die Kanzlerin, bei jeder Gelegenheit: „Wir schaffen das.“ Deutschland wird es schaffen, Tausende, Zehntausende, Hundertausende Menschen aufzunehmen, notfalls die halbe Welt, so hört sich dieser Satz an. Konditionalität ist im Merkelschen Wortschatz derzeit nicht mehr vorgesehen.

Und die Worte kommen an: Die Deutschen wollen ja gerade flexibel und weltoffen sein, sie wollen helfen, sie zelebrieren ihr ganz eigenes Spätsommermärchen, nur dass es diesmal um Flüchtlinge geht, nicht um Tore.

Merkel hat diese Sehnsucht erkannt, weil sie ihr Volk genau vermisst, auch durch ständige Meinungsumfragen ihrer Helfer. Deswegen steht sie auf einmal wieder an der Spitze einer deutschen Massenbewegung, ganz wie Ur-Machtdialektiker Machiavelli einst riet: „Ich glaube, dass nur der erfolgreich ist, der seine Handlungsweise mit dem Zeitgeist in Einklang bringt“, schrieb er. Merkel ertastete diesen Zeitgeist über ihre größte Stärke, die Empathie.

Die Kanzlerin vermag zwar nicht wie ein Bill Clinton sagen: I feel your pain, ich fühle Deinen Schmerz, das hat ihr ansonsten ungelenker Austausch mit dem weinenden Flüchtlingsmädchen in Rostock der Welt wieder vorgeführt. Aber sie ist dennoch eine große Empathikerin, denn sie kann sich bestens in andere Menschen versetzen. Sie versteht die Gedanken der Flüchtlinge, schließlich kennt Merkel sich mit Neuanfängen aus. Die Ostdeutsche hat sich nach der Wende fast wie eine Einwanderin ein ganzes (West)land aneignen müssen.

Aber wichtiger noch: Merkel kann sich bestens in ihre Bürger versetzen, die nicht mehr das "Dunkeldeutschland" der Neunziger Jahre verkörpern wollen, als Flüchtlingsheime brannten und es von allen Seiten raunte, das deutsche Boot sei wirklich voll.

Es ist gut möglich, dass sich Merkel überhoben hat

Deswegen kann Merkel nun ungehemmt Optimismus verbreiten, und sie hat dabei noch dazu das „Charisma der Stille“ auf ihrer Seite, wie es Merkel-Deuter Dirk Kurbjuweit vom SPIEGEL so umschrieb: „Wenn sich an jemanden die Vermutung knüpft, dass er die Dinge durchdenkt und im Griff hat, ohne das hinausposaunen zu müssen.“ Dieses Charisma lässt auch, sobald Merkel mal handelt, mit einem Schlag alles vergessen, was vorher war oder eher nicht war – etwa die lange fehlenden Worte der Kanzlerin zur Flüchtlingsdebatte. Sie schwieg so laut, dass auf Twitter schon der Hashtag #merkelschweigt kursierte.

Ihr Zaudern ist längst zum Kult geworden. Das Jugendwort des Jahres 2015 könnte „merkeln“ werden, es liegt in Umfragen klar vorn. „merkeln“ heißt unter den jungen Leuten: nichts tun, keine Entscheidungen treffen, keine Äußerungen von sich geben. Dass die Dame im Kanzleramt Verbindliches nicht so mag, hat sich also bis in die deutsche Generation herumgesprochen, die sich an gar keine andere Regierungschefin erinnern kann.

Was Flüchtlinge dürfen

Bis sie dann eben nicht mehr schweigt. Freilich funktionierte diese Strategie bislang, weil die Kanzlerin auch, einmal handelnd, Erwartungen geschickt gezügelt hat. Sie hat selten mehr versprochen als sie halten konnte. Als sie nach dem Reaktorunglück von Fukushima auf einmal ähnlich ruckartig wie nun in der Flüchtlingsfrage reagierte und blitzschnell die Atomkraft begrub, die sie als Physikerin so lange verteidigt hatte, waren die drohenden Auswirkungen und Kosten zwar auch gewaltig. Doch Merkel hatte das Glück, dass sich vieles davon in die Zukunft verlagert, es ist schlicht schwer nachzuhalten.

Das ist diesmal anders. Es ist gut möglich, dass Merkel sich mit ihrem Satz „Wir schaffen das?“ überhoben hat. Die nun bewilligten sechs Milliarden Euro werden als Flüchtlingsnothilfe nicht lange reichen, das geben selbst Merkel-Vertraute offen zu. Deutschlands schwarze Haushaltsnull, auf die Finanzminister Wolfgang Schäuble so stolz ist, dürfte wackeln.

Und viele Fragen bleiben ungeklärt: Wo sollen Zehntausende Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen sind, in Schulen und Kindertagesstätten unterkommen? Wie viele Menschen werden noch kommen, wenn allein 3,8 Millionen Syrer auf der Flucht sind? Werden andere EU-Nationen die Verteilungsquote, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker großspurig ankündigte, wirklich mitmachen?

Wie halten wir Deutschen es mit dem Islam?

Und schließlich: Wie halten wir Deutschen es mit dem Islam? Als eine Dame bei einer Bürgersprechstunde Merkel gerade fragte, wie sie Europa und seine Werte vor den Muslimen verteidigen wolle, antwortete sie klug und ruhig, auch Christen stünde doch frei, ihre Religion zu zelebrieren, so entstehe Dialog.

Doch der Zuzug vor allem muslimisch geprägter Menschen wird unsere Nation verändern, wie selbst Merkel-Vertraute offen zugeben. Sie sprechen aus, was derzeit nicht in die öffentliche Stimmungslage passt: Verlieren die noch so hilfsbereiten Deutschen die Lust am Helfen, wenn die bunte neue Flüchtlingswelt ihnen mehr abverlangt als Bilder auf Facebook zu teilen?

Und wie lange wird es dauern, bis die Worte des Soziologen Heinz Bude wahr wirken, der gerade in der Zeit schrieb: „Der gute Mensch ist kein dummer Mensch. Immer sind die Plätze knapp und die Mittel beschränkt. Immer muss man auswählen und Vorkehrungen treffen, dass der Gast dem Gastgeber gegenüber sein Gesicht wahren kann.“

Auch „Dunkeldeutschland“ ist ja nicht verschwunden, selbst wenn Deutschland gerade so hell scheint. Rund 200 Brandanschläge auf Flüchtlingseinrichtungen hat es in diesem Jahr schon gegeben, mehrmals kam nur durch Zufall kein Mensch ums Leben. Beim Besuch im sächsischen Heidenau musste Merkel Plakate lesen, auf denen „Volksverräter“ stand. Im kleinen Kreis ließ sie keinen Zweifel daran, wie tief sie so etwas gerade in ihrer ostdeutschen Heimat traf.

Merkels Vorgänger Helmut Kohl und Gerhard Schröder haben gegen Ende ihrer politischen Karriere durchaus mutig politisches Kapital in Vorhaben investiert, die ihnen wichtig waren – Helmut Kohl in den Euro, Schröder in die Agenda 2010.

Das aktuelle Spätsommermärchen bietet Merkel unverhofft eine Mutprobe vergleichbarer Dimension. Sie muss nun die Flüchtlingseuphorie bewahren, aber auch unsere Werte und schlussendlich, so profan es angesichts der aktuellen Euphorie klingt, unseren Wohlstand.

Schließlich will Merkel, davon gehen alle aus, 2017 wiedergewählt werden. Und dafür muss sie so populär bleiben, wie sie derzeit ist, aber nicht im Irak, in Afghanistan, oder Syrien, sondern in Deutschland.

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