Angela Merkel Die Kanzlerin gibt den Deutschen, was sie wollen

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Es ist gut möglich, dass sich Merkel überhoben hat

Deswegen kann Merkel nun ungehemmt Optimismus verbreiten, und sie hat dabei noch dazu das „Charisma der Stille“ auf ihrer Seite, wie es Merkel-Deuter Dirk Kurbjuweit vom SPIEGEL so umschrieb: „Wenn sich an jemanden die Vermutung knüpft, dass er die Dinge durchdenkt und im Griff hat, ohne das hinausposaunen zu müssen.“ Dieses Charisma lässt auch, sobald Merkel mal handelt, mit einem Schlag alles vergessen, was vorher war oder eher nicht war – etwa die lange fehlenden Worte der Kanzlerin zur Flüchtlingsdebatte. Sie schwieg so laut, dass auf Twitter schon der Hashtag #merkelschweigt kursierte.

Ihr Zaudern ist längst zum Kult geworden. Das Jugendwort des Jahres 2015 könnte „merkeln“ werden, es liegt in Umfragen klar vorn. „merkeln“ heißt unter den jungen Leuten: nichts tun, keine Entscheidungen treffen, keine Äußerungen von sich geben. Dass die Dame im Kanzleramt Verbindliches nicht so mag, hat sich also bis in die deutsche Generation herumgesprochen, die sich an gar keine andere Regierungschefin erinnern kann.

Was Flüchtlinge dürfen

Bis sie dann eben nicht mehr schweigt. Freilich funktionierte diese Strategie bislang, weil die Kanzlerin auch, einmal handelnd, Erwartungen geschickt gezügelt hat. Sie hat selten mehr versprochen als sie halten konnte. Als sie nach dem Reaktorunglück von Fukushima auf einmal ähnlich ruckartig wie nun in der Flüchtlingsfrage reagierte und blitzschnell die Atomkraft begrub, die sie als Physikerin so lange verteidigt hatte, waren die drohenden Auswirkungen und Kosten zwar auch gewaltig. Doch Merkel hatte das Glück, dass sich vieles davon in die Zukunft verlagert, es ist schlicht schwer nachzuhalten.

Das ist diesmal anders. Es ist gut möglich, dass Merkel sich mit ihrem Satz „Wir schaffen das?“ überhoben hat. Die nun bewilligten sechs Milliarden Euro werden als Flüchtlingsnothilfe nicht lange reichen, das geben selbst Merkel-Vertraute offen zu. Deutschlands schwarze Haushaltsnull, auf die Finanzminister Wolfgang Schäuble so stolz ist, dürfte wackeln.

Und viele Fragen bleiben ungeklärt: Wo sollen Zehntausende Kinder und Jugendlichen, die mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen sind, in Schulen und Kindertagesstätten unterkommen? Wie viele Menschen werden noch kommen, wenn allein 3,8 Millionen Syrer auf der Flucht sind? Werden andere EU-Nationen die Verteilungsquote, die Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker großspurig ankündigte, wirklich mitmachen?

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