Angela Merkel ist die Europapolitikerin des Jahres. Eigentlich müsste es heißen: des Jahrzehnts. Denn kein Politiker in Europa hat der Europäischen Union so stark den Stempel aufgedrückt wie die Bundeskanzlerin, die 2015 ihr zehnjähriges Jubiläum im Kanzleramt beging.
Ein Amt, das dieser bemerkenswerten Frau offenbar von Anfang an zu eng war. Heute stellt sich im Rückblick heraus, dass die „mächtigste Frau der Welt“ („Forbes“) dem nationalen Horizont längst entwachsen ist. Sie regiert ganz Europa in einer Selbstverständlichkeit, wie es nur eine Politikerin tun kann, die in ihrer Persönlichkeit so unaufgeregt, nüchtern und frei von eitler Machtdemonstration ist wie die Bundeskanzlerin. Das unterscheidet sie wohltuend von vielen ihrer männlichen Kollegen und führte in ihren ersten Kanzlerjahren dazu, dass sie häufig unterschätzt wurde – mit dem bekannten Ergebnis.
Als sie ihren inzwischen berühmt gewordenen Satz zur Flüchtlingsfrage sagte, „Wir schaffen das“, legte sich die Bundeskanzlerin auf einen höchst umstrittenen Kurs fest und verteidigt ihn bis heute gegen immer stärkere Anfeindungen. Merkel nimmt in Kauf, was sie zehn Jahre zu vermeiden wusste: eine Position zu beziehen, die nicht unbedingt der Stimmungslage in der Bevölkerung und nicht den Umfragewerten folgt, sondern eher dem eigenen Gewissen. Dieser geradezu lutherische Mut zur eigenen Meinung hat alle überrascht. Die Frau, die sonst angeblich Land und Leute einschläfert, um in Ruhe regieren zu können, hat sich über Nacht in die Mitte der Arena gestellt und kämpft seither für ihre Überzeugung. Während sich das Publikum erstaunt die Augen reibt, müssen die meisten Kommentatoren ihre Leitartikel zur zehnjährigen Kanzlerschaft von Grund auf umschreiben.
Angela Merkel hat mit ihrer Entscheidung der Grenzöffnung nicht nur Deutschland ein menschliches Antlitz verliehen, sondern ganz Europa ein schreckliches Drama vor seinen Toren erspart. Sie sagte: „Europa muss seiner Verantwortung gerecht werden“, und schulterte diese Verantwortung für ganz Europa gleich mit. Hätte sie ihrem mutigen Auftritt dann noch einen Plan hinzugefügt, an dem sich alle abarbeiten können – sie hätte sich und uns viel Ärger erspart.
Die Kategorie von Deutschland als Nation kommt im Weltbild der Bundeskanzlerin offenbar immer seltener vor. Das ist auch der eigentliche Grund für die Irritation in der eigenen Anhängerschaft und für das Unverständnis vieler unserer Nachbarn, die über Merkels Akt der Selbstermächtigung verärgert sind, weil sie sich in ihren eigenen nationalen Interessen übergangen beziehungsweise in die Ecke gedrängt fühlen.
Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer Politik nicht nur eine menschliche Seite offenbart, sondern sich als europäischster Regierungschef des Kontinents entpuppt. Sie denkt den europäischen Einigungsprozess am radikalsten zu Ende. Statt den Weg zur Politischen Union über die Brüsseler Institutionen zu gehen, schafft sie im Alleingang Fakten, hinter die Europa nicht mehr zurückfallen kann. Sie will nationale Egoismen überwinden und hat stattdessen das große Ganze im Blick. Sie weiß, dass Europa das einzige politische und kulturelle Forum ist, in dem sich solche jedes einzelne Land überfordernden Herausforderungen wie Flüchtlingsbewegungen, Finanzkrise, Klimawandel, Terrorismus und Steueroasen bewältigen lassen.
Sie weiß, dass dem alten Kontinent der Bedeutungsverlust im Konzert der Weltmächte droht, wenn er seine Krisen nicht gemeinsam bewältigt. Die USA wenden sich schon längst der kommenden großen Auseinandersetzung mit dem neuen Rivalen China zu und überantworten Europa die Trümmer der gescheiterten US-Politik im Nahen Osten. Russland neigt in diesem Großkonflikt zu China, und Präsident Wladimir Putin lässt auf den Krisenschauplätzen der Welt keine Chance verstreichen, den Keil der Spaltung in Europa ein Stück weiter hineinzutreiben. Dies alles muss die Kanzlerin im Kopf haben, wenn sie für Europa Politik macht.
Doch ihr Krisenmanagement wird nicht nur in der Flüchtlingspolitik immer öfter als rücksichtslos empfunden. Auch in der Finanzkrise, die plötzlich aus der öffentlichen Diskussion verschwunden zu sein scheint, hat die deutsche Bundesregierung mit ihrem geradezu obsessiven Insistieren auf orthodoxer Sparpolitik viele europäische Partnerländer vor den Kopf gestoßen. Angela Merkel hat aufgrund des ökonomischen Gewichts Deutschlands und ihrer – auch hier wieder – informellen Verhandlungsmacht im Europäischen Rat die deutschen Vorstellungen zur Bewältigung der Schuldenkrise gegen heftige Widerstände durchgesetzt und die Krisenländer zu einschneidenden Reformen genötigt. Dabei hat sie sich allerdings den drastischen Folgen dieser sozial einseitigen Sparpolitik nicht gestellt. Bis heute verweigert sie ernsthafte Verhandlungen über die Umstrukturierung von Griechenlands Schulden, obwohl jeder (einschließlich des IWF) weiß, dass kein Weg daran vorbeiführen wird.
Es ist schon richtig, Angela Merkel handelt aus der Not heraus, weil sich sonst niemand findet, der die chronische europäische Handlungsunfähigkeit überwindet. Deshalb müssen die EU-Staaten eigentlich froh sein, dass wenigstens Merkel sich kümmert. Die Tragik ihrer Kanzlerschaft aber liegt darin, dass sie im Kampf für die Vereinigten Staaten von Europa immer wieder auch selbst die Axt an die europäische Einheit legt. Sie führt Krisen beharrlich einer Lösung zu, doch ihre Rigorosität wird zunehmend als Rechthaberei empfunden. Deutsche Dominanz darf jedoch nicht als Bedrohung empfunden werden. Der verstorbene Altkanzler Helmut Schmidt hatte recht, als er 2011 davor warnte: „Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, gestützt auf unsere ökonomische Stärke eine politische Führungsrolle in Europa zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter Pares zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren. Die Besorgnis der Peripherie vor einem allzu starken Zentrum Europas würde ganz schnell zurückkehren. Die wahrscheinlichen Konsequenzen solcher Entwicklung wären für die EU verkrüppelnd. Und Deutschland würde in Isolierung fallen.“
Erreicht also Angela Merkel mit ihrer Leidenschaft womöglich das Gegenteil?
Nein, so ist das nicht.
Aber wenn es ihr gelänge, die engere Kooperation Europas voranzutreiben und gleichzeitig in den Institutionen Europas dafür zu sorgen, dass in absehbarer Zeit eine deutsche Führungsrolle strukturell wieder verzichtbar wird – dann wäre sie tatsächlich die Europäerin des Jahrzehnts.
Wer auch noch auffiel
Neben Angela Merkel gab es 2015 weitere Politiker, die sich großer Popularität erfreuten.
„Yes, we can!” – In der Wahlnacht am 4. November 2008 feierten viele Amerikaner den gerade gewählten 44. Präsidenten der USA. Auch Europa fieberte seiner ersten Amtszeit mit großer Hoffnung entgegen. 85 Prozent der Deutschen hätten ihn damals gern selbst gewählt, auch, weil sie sich einen Bruch mit der unliebsamen Politik der Bush-Regierung wünschten. Vorschusslorbeeren gab es reichlich; nach einem knappen Jahr im Amt wurde Barack Obama sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Im Schatten der anhaltenden Finanzkrise und der außenpolitischen Malaise der Nach-Bush-Ära machte sich jedoch bald Katerstimmung breit. Reformen stießen auf Widerstand. Innenpolitische Versprechen zerbrachen auf dem harten Boden der Tatsachen, und international gelang kaum etwas. Dann aber war die Wiederwahl 2012 leichter als gedacht, dank eines schwachen Herausforderers (Mitt Romney) und einer verworren agierenden Republikanischen Partei. Nachdem aber bei den Zwischenwahlen im November 2014 die Republikaner nicht nur ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus weiter ausbauten, sondern auch den Senat für sich gewinnen konnten, haben Kritiker Obama am Ende gesehen.
Dass Totgesagte tatsächlich länger leben, zeigte Präsident Obama 2015. Sein Durchhaltevermögen und seine politische Hartnäckigkeit haben sich in diesem Jahr ausgezahlt. Es war ein Jahr der gesellschaftspolitischen Debatten und auch der Fortschritte in den USA. Nach Ferguson und weiteren blutigen Gewalttaten gegen Schwarze hielt sich der erste afroamerikanische Präsident in der Rassismus-Debatte nicht länger zurück: „Ich bin sehr stolz, dass meine Präsidentschaft helfen kann, Amerika gegen rassistische Ungerechtigkeit zu mobilisieren“, proklamierte er, und seine kraftvolle Trauerrede nach der Ermordung von neun Afroamerikanern in Charleston bewegte die Nation. Am gleichen Tag übrigens legalisierte das amerikanische Verfassungsgericht die gleichgeschlechtliche Ehe landesweit. Bereits seit Beginn seiner ersten Regierungszeit hatte sich Obama für dieses Ziel eingesetzt und freute sich nun über einen „Sieg für ganz Amerika“. Das Verfassungsgericht unterstützte auch ein weiteres zentrales Projekt Obamas, welches weit in die erste Amtszeit zurückreicht: „Obamacare“. Im Mai bestätigte das Gericht die Rechtmäßigkeit der Gesundheitsreform, die nach einem Fehlstart und gegen den massiven Widerstand der Republikaner nun doch noch ein Erfolg zu werden scheint. Seit Einführung der Reform haben zehn Millionen mehr Menschen Zugang zu einer bezahlbaren medizinischen Grundversorgung.
Weitere – vielleicht sogar historische – Erfolge erzielte Obama auf der internationalen Bühne. Trotz sehr kritischer Stimmen im In- und Ausland trieb er in zähen Verhandlungen ein wegweisendes Atomabkommen mit Iran voran – in guter Zusammenarbeit mit Europa. Nach der Devise „Kooperation statt Konfrontation“ beendete er die politische Isolation Kubas mit der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen im Juli dieses Jahres. Auch wenn der Weg zu einer Normalisierung der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen noch lang ist, scheint die von Obama angestoßene Entwicklung unumkehrbar zu sein. Ausdauer bewies der US-Präsident auch in der internationalen Wirtschaftspolitik: Nach sieben Jahren sind im Oktober die Verhandlungen um das transpazifische Handelsabkommen (TPP) erfolgreich abgeschlossen worden, ein wichtiger Wegweiser für die vertrackten TTIP-Verhandlungen mit Europa. Spätestens seit den Anschlägen von Paris wird Obamas Außenpolitik jedoch wieder infrage gestellt. Man kritisiert sein Zögern, internationale Partner drängen ihn, härter in Syrien durchzugreifen. Laut einer CNN-Umfrage werfen ihm zwei Drittel der Amerikaner vor, keine wirkliche Strategie gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ zu haben.
Obama startet in sein achtes und letztes Amtsjahr. Er wird die tiefe Spaltung seines Landes in zwei politische Lager nicht überwinden können. Möglicherweise aber werden wir weitere Erfolge sehen. Ein Durchbruch gegen die Waffenlobby – auch gerade jetzt nach den Anschlägen von San Bernardino? Ein nachhaltiges Konzept beim Thema Einwanderung? Ein verbindliches Bekenntnis der USA zum Klimaschutz? Eine tragfähige internationale Koalition gegen den Terror? Selbst wenn manches nicht mehr gelingt – das Jahr 2015 hat uns Hinweise auf Barack Obamas politisches Erbe gegeben: sein unerschütterliches Engagement für eine vorausschauende Innenpolitik und seine diplomatische Durchsetzungskraft in der Außenpolitik. „Yes, he can“ – sometimes. Helmut K. Anheier
Frank-Walter Steinmeier
Es ist noch nicht lange her, da zog Frank-Walter Steinmeier erstmals in dieser Legislaturperiode im Ranking der populärsten Bundespolitiker an der Bundeskanzlerin vorbei auf den Spitzenplatz. Tatsächlich kann der besonnen agierende Außenminister auf ein umtriebiges Jahr zurückblicken: Ob das Atomabkommen mit Iran, die Friedensvereinbarungen in der Ukraine oder die Verhandlungsrunden zum Syrien-Konflikt – dem 59-Jährigen gelingt es oft, den Weltfrieden ein kleines Stück wahrscheinlicher zu machen. Kein Wunder, dass viele ihn bereits als künftigen Bundespräsidenten handeln. Heike Anger
Henriette Reker
Als Sozialdezernentin hatte sie sich beherzt für die Flüchtlinge in Köln eingesetzt, als Oberbürgermeisterkandidatin sollte ihr dies fast zum Verhängnis werden. Einen Tag vor der Wahl im Oktober stach ein Mann die parteilose Henriette Reker auf einem Wochenmarkt nieder und verletzte sie schwer – nach bisherigen Erkenntnissen aus fremdenfeindlichen Motiven. Es sollte dennoch ein Happy End geben: „Darlingheart, du hast die Wahl gewonnen!“ So erfuhr Reker nach drei Tagen Koma von ihrem Mann, einem Australier, dass die Kölner sie zu ihrem ersten weiblichen Stadtoberhaupt gekürt haben. Und mit ihrer offenen Art hat sie seitdem noch mehr Bürger für sich gewonnen. Claudia Panster
Aung San Suu Kyi
Myanmars Verfassung verbietet, dass Wahlsiegerin Aung San Suu Kyi Präsidentin werden kann – weil sie Kinder mit britischem Pass hat. Aber in dem Land, das vor der ersten demokratisch legitimierten Regierung nach jahrzehntelanger Militärdiktatur steht, hat die Verfassung momentan nicht das letzte Wort. Die 70 Jahre alte Friedensnobelpreisträgerin, deren Partei bei den Wahlen im November einen Erdrutschsieg erzielte, setzt auf Versöhnung, nicht auf Rache. Ob die Verfassung in letzter Minute geändert wird oder ob Suu Kyi wie von ihr geplant über eine Marionette im Präsidentenamt regieren wird, ist nun fast unbedeutend. Matthias Peer