Angela Merkel im Interview "Mit mir werden keine Reformen zurückgedreht"

Bundeskanzlerin Angela Merkel über den Wert der sozialen Marktwirtschaft, Entlastung der Mittelschicht, ihr Verhältnis zu Unternehmern und die Verschlechterung der Konjunktur.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel im Interview Quelle: Arne Weychardt für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Frau Bundeskanzlerin, die Linke erstarkt, die SPD wendet sich von der Agenda 2010 ab, und die Bürger wollen von der sozialen Marktwirtschaft immer weniger wissen – trotz einer bislang guten Konjunktur. Haben Sie eine Erklärung?

Merkel: Die soziale Marktwirtschaft steht in Deutschland unter der doppelten Herausforderung von demografischen Veränderungen und der fortschreitenden Globalisierung. Wir haben in Deutschland gute Voraussetzungen, angesichts beider Probleme unseren Wohlstand zu bewahren und zu entwickeln. Aber natürlich führen Veränderungen auch zu Verunsicherungen bei den Bürgern. Viele Menschen erleben, dass einstige Gewissheiten, wie die, dass mein Arbeitsplatz sicher ist, wenn es meinem Betrieb gut geht, nicht mehr ohne Weiteres gelten. Der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität besteht in jedem Land. Die Linke bedient diese Sehnsucht nach mehr Sicherheit aber auf billige und unverantwortliche Weise mit Forderungen nach Abschottung.

Funktioniert die soziale Marktwirtschaft denn noch, wenn sie den Bürgern nicht mehr die gewohnte soziale Sicherheit gewähren kann?

Ich bin der festen Überzeugung, dass die soziale Marktwirtschaft auch in Zeiten der Globalisierung das beste Wirtschaftsmodell ist. Es stärkt die Leistungsbereitschaft des Einzelnen und ermöglicht den Interessensausgleich in der Gemeinschaft. Die große Stärke der sozialen Marktwirtschaft ist, dass sie Einstiegs- und Aufstiegschancen für eine große Zahl von Menschen ermöglicht hat. Und an dieser Durchlässigkeit, die gerade die Mitte unserer Gesellschaft stärkt und vor Auszehrung schützt, müssen wir weiter arbeiten. Ich sehe keine bessere Alternative für unser inzwischen 60 Jahre altes Erfolgsmodell.

Hätte dies in den vergangenen zwei guten wirtschaftlichen Jahren nicht leichter sein müssen?

Es hat sich doch vieles getan. Nehmen Sie den Arbeitsmarkt. In den vergangenen drei Jahren sind 1,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, das heißt, dass 1,6 Millionen Menschen wieder Einstieg und Aufstieg geschafft haben. Und Deutschland ist auf rasch veränderten globalen Märkten Exportweltmeister geblieben. Aber klar ist auch, angesichts des globalen Wettbewerbs und der Alterung der Gesellschaft müssen wir uns weiterhin auf Veränderungen einlassen und unser System der sozialen Sicherung weiter anpassen. Heute kann sich niemand mehr – weder ein Unternehmen noch das Land noch die deutsche Nationalmannschaft – ein Ausruhen auf dem Erreichten erlauben.

Ihr Koalitionspartner, die SPD, will Mindestlöhne einführen und stellt Teile der Agenda 2010 in- frage. Dreht die Regierung Reformen zurück?

Während meiner Kanzlerschaft werden sinnvolle Reformen an keiner Stelle zurückgedreht. Das sage ich ausdrücklich beispielsweise mit Blick auf Bestrebungen, die Rente mit 67 auszuhöhlen, einen einheitlichen, flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit wieder auszubauen oder das arbeitsmarktpolitische Instrumentarium auszuweiten.

Das ist nicht mit Ihnen zu machen?

Nein. Wir werden weiter auf unserem Kurs notwendiger Veränderungen gehen. Die von meinem Vorgänger Bundeskanzler Schröder begonnenen und von der Union – das wollen wir nicht vergessen – damals mitgetragenen Reformen haben wesentlich zum jetzigen Aufschwung beigetragen. Diesen Weg hat meine Bundesregierung fortgesetzt. In den vergangenen drei Jahren sank die Arbeitslosigkeit von fünf Millionen auf 3,16 Millionen Menschen. Das ist gut, aber kein Grund, Entspannungssignale auszusenden. Wenn wir unsere sozialen Sicherungssysteme stabilisieren und die paritätisch finanzierten Beitragssätze unter 40 Prozent halten wollen, müssen wir auf Reformkurs bleiben. Ich arbeite fest daran, dass wir die Zahl der Erwerbslosen weiter senken.

"Die Bretter, die wir jetzt bohren müssen, werden noch dicker."

Bis wann wollen Sie dieses Ziel erreichen?

Ich werde jetzt keine Prognosen machen. Es gab vor mir Kanzler, die bei etwas über drei Millionen Arbeitslosen in die Luft gesprungen wären.

Sie meinen Helmut Kohl, der Mitte der Neunzigerjahre die Arbeitslosigkeit halbieren wollte, und Gerhard Schröder, der 1998 zu Beginn seiner Kanzlerschaft immerhin noch erklärte, die Arbeitslosigkeit „deutlich zu senken“.

Der weitere Abbau der Arbeitslosigkeit wird schwieriger, weil es nun vor allem in den wirtschaftsstarken Regionen um die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen und gering Qualifizierten geht. Die Bretter, die wir jetzt bohren müssen, werden noch dicker. Aber wenn wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente noch einmal effizienter machen und bündeln und etwa die Hinzuverdienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger reformieren könnten, sodass bessere Anreize zur Aufnahme von Arbeit bestehen, würden wir noch mehr Menschen den Einstieg in den Aufstieg ermöglichen.

Ist es nicht an der Zeit, den Bürgern nach all den Reformen und den Bürden gerade für die Mittelschicht und angesichts sprudelnder Steuereinnahmen wieder etwas zurückzugeben?

Die Wirtschaftspolitik der Union ist durch beides gekennzeichnet: Entlastung bei Steuern und Abgaben und solides Haushalten. Entlastungen, die nur auf Pump ermöglicht werden, erreichen das Gegenteil und müssten dem Bürger an anderer Stelle wieder genommen werden. Wir müssen die Zinszahlungen für Schulden doch alle gemeinsam finanzieren, und dieses Geld fehlt uns, um notwendige Investitionen in die Zukunft unseres Landes tätigen zu können. Wir haben schon zu lange auf Kosten der Zukunft gelebt. Wenn wir unseren Haushalt so weit im Griff haben, dass wir Spielräume haben, werden wir diese für Steuersenkungen nutzen. Das haben wir bei der Unternehmenssteuerreform so gemacht und im Übrigen in dieser Legislaturperiode auch beim Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung. Dieser ist von 6,5 auf 3,3 Prozent gesunken. Ich hoffe, dass der Beitrag im nächsten Jahr noch weiter sinken wird.

Auf Zielmarke 3,0?

Ja. Wir in der Union sind der Meinung, dass ein Beitragssatz von 3,0 zum 1. Januar 2009 machbar und vertretbar ist. Wir sollten die Überschüsse bei der Bundesagentur für Arbeit, die dank der guten Arbeitsmarktentwicklung anfallen, den Beschäftigten geben und nicht etwa für zusätzliche Arbeitsmarktprogramme ausgeben. Darüber werden wir im Herbst in der Bundesregierung entscheiden.

Hier geht es um das Geld der Beitragszahler. Wie aber ist es mit den Steuerzahlern. Können Sie nicht gleichzeitig den Haushalt konsolidieren und die Bürger entlasten?

Es ist doch nicht so, dass hier nichts passiert. Wir entlasten die Beitragszahler zur gesetzlichen Krankenversicherung, indem wir auch 2009 zusätzlich 1,5 Milliarden Euro an Steuermitteln dorthin überweisen. Dies ist ein Ausgleich für die beitragsfreie Mitversicherung der Kinder und entlastet Millionen Haushalte. Und wir werden bei den Kinderfreibeträgen und beim Kindergeld zwischen ein und zwei Milliarden Euro im nächsten Jahr zurückgeben. Die Staatsquote ist in den vergangenen Jahren gesunken, auch das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Daneben investieren wir wieder mehr in Verkehrsinfrastruktur und in Bildung. So einfach, wie es manchmal gefordert wird, dass man mehr Ausgaben fordert und gleichzeitig niedrigere Steuern will, aber nicht sagt, woher das Geld kommen soll, ist es eben nicht. Ich sage noch einmal: Bei einem Anteil von 15 Prozent Zinszahlungen am Bundeshaushalt bin ich strikt dagegen, noch mehr auf Pump zu leben.

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