Anschlag in Berlin Sind wir wirklich erschüttert?

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Das Entsetzen nimmt ab

An den Anblick des Sterbens und des Todes gewöhnen sich die meisten Menschen, wenn sie ihm öfter ausgesetzt sind. „Man muss sich daran gewöhnen, wenn man psychisch stabil weiterleben und nicht wahnsinnig werden will“, sagt der Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität in Berlin.

Frühere Soldaten, die die Weltkriege durchlitten, erzählen oft, wann und wo sie den ersten Toten sahen. Und dass der Anblick erschütternd war. Die vielen weiteren Toten sind dann nur noch der Rede wert, wenn es eigene Kameraden waren. Der wiederholte Anblick des Grauens wirkt „abstumpfend“.

Im bürgerkriegsgeplagten Kolumbien, erzählt Baberowski, schrieben Polizisten seelenruhig Strafzettel für Falschparker, während Leichen in den Straßen lagen. Umso mehr wirkt die Gewöhnung an den Anblick des Schreckens, wenn er nicht unmittelbares Erleben ist. Fernsehbilder von Terroranschlägen sind für den Medienkonsumenten längst zu einer unregelmäßigen Routine geworden. Selbst wenn sie aus dem eigenen Land oder gar der eigenen Stadt kommen - das Entsetzen nimmt ab.

Woran man sich nicht gewöhnt, das ist die Angst, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Aber das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, ist in Deutschland eben immer noch sehr begrenzt. „Wenn es weit weg passiert und die Menschen wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, davon getroffen zu werden, sehr gering ist, lassen Terroranschläge die Menschen unberührt“, sagt Baberowski.

In terrorgeplagten Ländern wie Israel hat die Bedrohung eine andere Dimension. „In Israel würde niemand sagen: Damit muss man eben leben. An Terror kann man sich nicht gewöhnen“, sagt Baberowski. An konventionelle Kriege könne man sich besser gewöhnen, weil das Verhalten der Menschen darin einigermaßen berechenbar sei. Es ist meist bekannt, wer der Feind ist und meist auch einigermaßen bekannt, wo er steht.

„Der Terror“, so Baberowski, beziehe anders als der Krieg seine Wirksamkeit gerade daraus, dass man nicht weiß, was kommt. Erst recht nicht, nachdem islamistische Terroristen nicht mehr in erster Linie herausgehobene und polizeilich schützbare Symbole des Systems attackieren, wie das World Trade Center und das Pentagon, sondern zu einer Strategie des Es-kann-jeden-und-überall-treffen wechselten.

Auch dass die Menschen einfach ihren Alltag weiterleben müssen und so tun müssen, als sei nichts gewesen, gehört zum Terror.

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