Anschlag in Berlin Sind wir wirklich erschüttert?

Politiker reagieren mit emotionalen Phrasen auf Terroranschläge. Doch tatsächlich gewöhnen sich die Menschen an die Bilder des Terrors. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig.

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Streife auf Frankfurter Weihnachtsmarkt. Quelle: dpa Picture-Alliance

Sie sei „entsetzt, erschüttert, tief traurig“, sagte Angela Merkel am Dienstag nach der Gewalttat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Das Land sei in tiefer Trauer mit den Opfern vereint. Von „uns allen“ spricht sie. Ähnliche Worte sprach Joachim Gauck. Eine Bundeskanzlerin und ein Bundespräsident pflegen so etwas zu sagen, wenn ein Terroranschlag erfolgt. Viel Gefühl und viel wir.

"Kampf gegen Terror ist auch ein Kampf für Freiheit"
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Aber sind die Deutschen tatsächlich mit ihrer Kanzlerin und ihrem Präsidenten erschüttert? Oder sind die merkelschen und gauckschen Gefühlsbekundungen nur ein Teil einer längst eingeübten medialen Anti-Terror-Routine?

An der Börse, die einmal als Indikator für Stimmungen galt, ist nicht der geringste Ausschlag zu erkennen. Den Börsianern vorzuhalten, sie seien besonders abgebrüht, empfindungslos oder abgestumpft, ist unsinnig. Denn die nicht an der Börse handelnden Deutschen benehmen sich ähnlich.

Schon gestern Abend unter dem unmittelbaren Eindruck des Anschlags wirkten die Menschen in Berlin gelassen und besonnen, wie unser Berliner Kollege Florian Willershausen aus eigenem Erleben berichtet. Die Polizei tat ruhig ihre Arbeit, die Straßen waren und sind nicht leergefegt, keine überschäumenden Emotionen. Ebenso routiniert, wie die Kanzlerin vor der Presse auftritt, informieren sich die Deutschen, was passiert ist. Aber schon beim dienstäglichen Mittagessen in einem Düsseldorfer Schnellrestaurant blickt keiner mehr auf die Fernsehübertragung der Berliner Pressekonferenz, man unterhält sich über den Job, Weihnachtsgeschenke, Fußball. Wie immer.

Der Berliner Terroranschlag war, so könnte man sagen, vermutlich nicht nur an der Börse sondern auch im Alltagsleben der meisten Deutschen längst eingepreist. Man hatte so etwas schon lange erwartet. Nun ist es eingetreten.

Große Terroranschläge in Europa

Vor wenigen Tagen erst schrieb die Chefin des Allensbach-Instituts, Renate Köcher, in der WirtschaftsWoche, dass sich in der Bevölkerung ein latentes Gefühl der Bedrohung breit gemacht habe: „Mittlerweile fürchten 80 Prozent, dass der Terrorismus weltweit zunimmt, 70 Prozent, dass es zu einem größeren Anschlag in Deutschland kommen wird.“ Zudem hätten 77 Prozent der Bürger „auch abseits von Terroranschlägen den Eindruck, dass Gewalt und Kriminalität generell zunehmen“.

„Keep calm and carry on“ – Die britische Regierung verzichtete 1939 darauf, bereits gedruckte Poster mit dieser Botschaft aufzuhängen. Es scheint auch 2016 unnötig. Die Menschen bleiben auch im Angesicht von Leiden und Schrecken ruhig – und führen ihr Leben weiter.

Das Entsetzen nimmt ab

An den Anblick des Sterbens und des Todes gewöhnen sich die meisten Menschen, wenn sie ihm öfter ausgesetzt sind. „Man muss sich daran gewöhnen, wenn man psychisch stabil weiterleben und nicht wahnsinnig werden will“, sagt der Historiker und Gewaltforscher Jörg Baberowski von der Humboldt-Universität in Berlin.

Frühere Soldaten, die die Weltkriege durchlitten, erzählen oft, wann und wo sie den ersten Toten sahen. Und dass der Anblick erschütternd war. Die vielen weiteren Toten sind dann nur noch der Rede wert, wenn es eigene Kameraden waren. Der wiederholte Anblick des Grauens wirkt „abstumpfend“.

Im bürgerkriegsgeplagten Kolumbien, erzählt Baberowski, schrieben Polizisten seelenruhig Strafzettel für Falschparker, während Leichen in den Straßen lagen. Umso mehr wirkt die Gewöhnung an den Anblick des Schreckens, wenn er nicht unmittelbares Erleben ist. Fernsehbilder von Terroranschlägen sind für den Medienkonsumenten längst zu einer unregelmäßigen Routine geworden. Selbst wenn sie aus dem eigenen Land oder gar der eigenen Stadt kommen - das Entsetzen nimmt ab.

Woran man sich nicht gewöhnt, das ist die Angst, selbst verletzt oder gar getötet zu werden. Aber das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, ist in Deutschland eben immer noch sehr begrenzt. „Wenn es weit weg passiert und die Menschen wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, davon getroffen zu werden, sehr gering ist, lassen Terroranschläge die Menschen unberührt“, sagt Baberowski.

In terrorgeplagten Ländern wie Israel hat die Bedrohung eine andere Dimension. „In Israel würde niemand sagen: Damit muss man eben leben. An Terror kann man sich nicht gewöhnen“, sagt Baberowski. An konventionelle Kriege könne man sich besser gewöhnen, weil das Verhalten der Menschen darin einigermaßen berechenbar sei. Es ist meist bekannt, wer der Feind ist und meist auch einigermaßen bekannt, wo er steht.

„Der Terror“, so Baberowski, beziehe anders als der Krieg seine Wirksamkeit gerade daraus, dass man nicht weiß, was kommt. Erst recht nicht, nachdem islamistische Terroristen nicht mehr in erster Linie herausgehobene und polizeilich schützbare Symbole des Systems attackieren, wie das World Trade Center und das Pentagon, sondern zu einer Strategie des Es-kann-jeden-und-überall-treffen wechselten.

Auch dass die Menschen einfach ihren Alltag weiterleben müssen und so tun müssen, als sei nichts gewesen, gehört zum Terror.

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