Anschlag in Berlin "Wenn wir nichts tun, drohen uns französische Zustände"

Nach dem Anschlag in Berlin reagiert die Politik mit Alarmismus. Der Ökonom Tim Krieger erforscht Terrorismus und erklärt, warum das falsch ist und wir auf Terror stattdessen mit besserer Integration reagieren sollten.

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"Kampf gegen Terror ist auch ein Kampf für Freiheit"
Frank-Walter Steinmeier Quelle: REUTERS
Klaus Bouillon Quelle: dpa
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Thomas Strobl Quelle: dpa
Heiko Maas Quelle: dpa

WirtschaftsWoche Online: Herr Krieger, der IS hat sich zu dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt bekannt. Es ist das größte Attentat in einer ganzen Reihe von mutmaßlichen IS-Attentaten, die über Deutschland ergingen. Politiker aller Couleur fordern nun schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Ist das sinnvoll?
Tim Krieger: Momentan herrscht in der Politik das Gefühl vor, sehr viel tun zu müssen. Letztlich hat sich die Gefahrenlage in Deutschland aber nicht verändert, so spektakulär und grausam dieses Attentat auch wirkt. Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist weiterhin sehr unwahrscheinlich. Aus ökonomischer Sicht sind die Maßnahmen, die debattiert werden, recht hochgegriffen. Viele Wünsche der Innenpolitiker und Sicherheitsbehörden gibt es schon sehr lange, sie sind aber wegen ihres wenig überzeugenden Kosten-Nutzen-Verhältnisses in der Vergangenheit immer wieder vom Parlament abgelehnt worden. Sie waren zu teuer, an ihrer Effektivität und wegen der damit verbundenen Einschränkungen der Bürgerrechte bestanden Zweifel. Insgesamt sind die Forderungen eine sehr reflexartige, aber normale Reaktion. Vor dem Hintergrund der nächsten Bundestagswahl und dem Erstarken der AfD will keine Partei wirken, als unternähme sie nichts gegen die terroristische Bedrohung.

Tim Krieger ist Ökonom und Terrorismusforscher. Seit 2012 hat er an der Universität Freiburg die Wilfried-Guth-Stiftungsprofessor für Ordnungs- und Wettbewerbspolitik inne. Quelle: Privat

Das scheint kein reines AfD-Phänomen zu sein. Der CDU-Mann und Vorsitzende der Innenminister-Konferenz, Klaus Bouillon, sprach nach dem Anschlag vom „Kriegszustand“, auch wenn er das später wieder zurücknahm.
Das hat mit Unkenntnis, fehlender Sensibilität und der Ungenauigkeit der politischen Kommunikation zu tun. Aktuell versuchen viele, mit diesem Anschlag politische Gewinne zu erzielen, indem sie provozieren. Das halte ich für hoch problematisch. Davon profitieren nicht nur bestimmte Akteure aus dem politischen Bereich, sondern auch die Terroristen.

Inwiefern?
Terroristen haben ein Interesse daran, ein klares Feindbild heraufzubeschwören: Wir sind die Guten und die sind die Bösen. Genau so mobilisieren populistische Politiker Menschen. Eine scharfe Konfrontation spült den Jihadisten neue Mitglieder in die Hände. In dem Moment, in dem Moslems in Deutschland sehr stark unter politischen Druck geraten, gehen salafistische Anwerber auf sie zu: „Schaut mal, die Mehrheitsgesellschaft hasst euch. Darauf könnt ihr nur mit Hass reagieren.“ Das ist eine ganz einfache Strategie. Politiker, die das befeuern, handeln unverantwortlich. Sie schüren bewusst Ängste.

Welche Rolle spielen die Medien dabei?
Die reale Gefährdungslage gibt es nicht her, dass ein Thema wie Terrorismus hier über Tage so hoch gehängt wird. Natürlich sind die Menschen aufgewühlt und haben ein Informationsbedürfnis, dieses grausame Ereignis ist noch ganz frisch. Aber wenn wir Stimmen hören, die sagen, sie seien gestern noch über einen Weihnachtsmarkt gegangen und fühlten sich jetzt verunsichert, wird das Ganze sehr emotional. Die Medien transportieren diese Emotionen, was ja legitim ist. Sobald die Debatte allerdings emotional ist, ist es für Populisten ein Leichtes, mit ihren politischen Botschaften genau an dieser Stelle anzuknüpfen.

Das bedeutet der Anschlag von Berlin für die Sicherheit in Deutschland

Seit Tagen patrouillieren an den Bahnhöfen nun Polizisten mit Automatikwaffen. Erhöht das nicht die gefühlte Bedrohung?
In einer solchen Notsituation ist das ein Signal an die Bürger, dass die Politik etwas tut. Das stärkt kurzfristig das Sicherheitsgefühl, deswegen ist diese Maßnahme verständlich. Aber de facto wenig effektiv. Sie hilft nur temporär und ist konsumtiver Natur: Die Polizisten sammeln massenhaft Überstunden und in dem Moment, in dem sie die abbauen, ist die Sicherheit weg und es bleibt nichts. Das Denken, das in der Sicherheitsdebatte vorherrscht, ist sehr statisch. An bestimmten Orten versucht man, die Bedrohung komplett auszuschließen. Aber jemand, der töten will, findet immer eine Menschenmenge, in die er hineinfahren kann oder in der er eine Bombe zünden kann. Das Perfide an Terroristen ist ja, dass sie sich genau die Orte für ihren Anschlag aussuchen, die besonders erfolgsversprechend sind. Sie haben für ihre Tat meist nur eine Chance. Sehr stark gesicherte Ziele greifen Terroristen im Zweifelsfall nicht an, aber wir können nicht jeden öffentlichen Platz mit Polizisten absichern. Von daher müssen wir realistisch bleiben. Zumal viele der diskutierten Maßnahmen viel Geld kosten, das an anderer Stelle gebraucht wird.

Eine gemeinsame Datenbank könnte die Fahndungsarbeit erleichtern

Was wären aus Ihrer Sicht sinnvolle Maßnahmen für die Sicherheitsbehörden?
Wichtig ist es, die Fahndungs- und Aufklärungsarbeit im Vorfeld zu verbessern. Durch die föderale Struktur bestehen dort viele Probleme. Die Abstimmung zwischen den Bundesländern, aber auch auf europäischer Ebene, ist nicht gut. Eine gemeinsame Datenbank, die von den europäischen Partnern auch wirklich gepflegt wird, könnte dafür sorgen, dass Gefährder, die sich innerhalb Europa bewegen, rechtzeitig entdeckt werden können. All das ist nicht besonders teuer, aber sehr effektiv.

In Folge eines Attentats schnellen die Sicherheitsausgaben kurzfristig in die Höhe. Welche gesamtwirtschaftlichen Kosten hat die Serie von Attentaten?
Wirtschaftlich betrachtet hat die IS-Terrorkampagne keine echten Auswirkungen, dafür sind unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft momentan zu stark. Der Dax hat auf keinen der Anschläge in den vergangenen Monaten reagiert. Natürlich werden wir kurzfristige Effekte sehen: Weihnachtsmärkte dürften am stärksten betroffen sein. Auch die Tourismus-Branche in Berlin könnte leichte Einbußen verspüren, weil Menschen, die ihren Urlaub für nächstes Jahr dort buchen wollten, jetzt zweifeln. Gesamtwirtschaftlich betrachtet werden wir diese Delle aber nicht spüren.

Frankreich hat unter der Terrorserie der vergangenen beiden Jahre auch wirtschaftlich stark gelitten. Im Vergleich zum Vorjahr waren acht Prozent weniger Touristen im Land, trotz der Fußball-Europameisterschaft. Warum ist das in Deutschland anders?
Das Niveau der Anschläge, die wir in Deutschland erleben mussten, ist nicht mit Niveau der Anschläge in Frankreich zu vergleichen. Dort gingen die Terroristen sehr viel professioneller, aber auch brutaler vor und es gab viel höhere Opferzahlen. Damit will ich das Grauen der Taten hier keineswegs relativieren. In Deutschland haben wir es bis jetzt aber vor allem mit Einzeltätern zu tun, in Frankreich teilweise mit ganzen Kommandoeinheiten. Dadurch ist die Schreckenswirkung sehr viel größer. Zudem wirkte die Polizei hier nie überfordert, was wohl auch von potentiellen Touristen registriert wird.

Große Terroranschläge in Europa

Im Gegensatz zu Deutschland sind die Terroristen in Frankreich dort oder in Belgien aufgewachsen und haben sich zum Teil sogar in Europa radikalisiert. In Deutschland dagegen ist es bis dato eine kleine Zahl von Asylsuchenden, die sich radikalisiert haben.
In den Pariser Vororten tummeln sich heute viele Sozialfrustrierte, vor allem Nordafrikaner, die bis in die Achtzigerjahre hinein in Frankreich eine Perspektive und Arbeit hatten. Mit dem Erlahmen der Konjunktur verlangsamte sich auch der Integrationsprozess. Viele in den Vororten sind heute wirtschaftlich und sozial abgehängt. Aus ihrer persönlichen Lage heraus sind manche deswegen anfällig für die Beeinflussung durch Islamisten. Frankreich muss im sozialpolitischen Bereich einiges tun. Es braucht mehr Sozialarbeiter in den Vororten, einen Ausbau der Deradikalisierungs-Maßnahmen und vor allem mehr Chancengleichheit. Denn das größte Problem sind Gruppen, die innerhalb einer Gesellschaft keine Perspektive mehr zu haben glauben.

"Integration ist ein Prozess, an dem wir kontinuierlich arbeiten müssen"

Erwartet uns in Deutschland ähnliches? Schließlich kamen seit 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge und Asylbewerber ins Land, die zum Teil ihre Familien zurückließen, eine lebensgefährliche Flucht auf sich nahmen, um hier ein besseres Leben zu führen. Statt eines Jobs und einer Perspektive warten hier „besorgte Bürger“, Populisten und Arbeitslosigkeit auf sie. Wächst da nicht eine große Menge Frustrierter heran?
Genau das müssen wir verhindern, sonst erhalten auch wir in Deutschland französische Zustände, inklusive Ghettoisierung wie in den Pariser Vororten. Dann müssten wir uns über ein ähnliches terroristisches Bedrohungspotenzial wie in Frankreich sorgen. Das zu verhindern ist eine große Herausforderung. Ein paar Zehntausend Flüchtlinge kann eine große Gesellschaft relativ leicht integrieren. Bei mehr als einer Million Flüchtlingen auf einen Schlag ist die Herausforderung unermesslich größer. Und auch die Gefahr, dass größere Personengruppen nicht so berücksichtigt werden, wie wir das tun müssten.

Wo sehen Sie Nachholbedarf?
Ganz unabhängig von der Terrorismusfrage haben wir bis heute das Problem, dass es oft bei einer Bewerbung eine Rolle spielt, ob ein Name ausländisch klingt oder nicht und in welchem Stadtteil der Bewerber wohnt. Wenn junge Einwanderer sich etwa mit den Menschen aus der Nachbarstadt vergleichen, die genau so alt sind und einen ähnlichen Bildungshintergrund haben, aber aus Gründen wie der Herkunft in der Gesellschaft mehr Erfolg haben, ist das der größte Quell für Frustration. Wir dürfen niemandem das Gefühl geben, im Vergleich mit der Mehrheitsgesellschaft benachteiligt zu werden.

Und wie sollen wir das bewerkstelligen?
Gerade bei den Neuangekommenen wäre es ein erster Schritt aufzuklären, welche Möglichkeiten man in unserer Gesellschaft hat, erfolgreich zu werden und was wir als Gesellschaft von ihnen im Gegenzug verlangen. Offenheit für die Flüchtlinge und Verständnis für ihre Probleme sind vonseiten der Gesellschaft ganz wichtig. Die Integration ist ein Prozess, an dem wir kontinuierlich arbeiten müssen. Bei über einer Million Flüchtlingen, die im Land sind, kommen wir da nicht drum herum.

Besteht auch Nachholbedarf über das Soziale hinaus? Der aktuelle Fall in Berlin wirft viele Fragen auf. Der Tatverdächtige soll etwa gezielt nach Waffen und Mittätern gesucht und zuvor bereits in Italien eine Haftstrafe verbüßt haben. Wie kann es sein, dass der Tatverdächtige sich in Deutschland so frei bewegen konnte?
Der Schengen-Raum, in dem innerhalb Europas auf Grenzkontrollen verzichtet wird, ist einerseits eine große Errungenschaft. Bei Sicherheitsfragen kann er nur funktionieren, wenn alle Mitgliedsstaaten eng kooperieren und nationale Egoismen und Vorlieben beiseiteschieben. Hier gibt es weiterhin großen Verbesserungsbedarf in der Kooperation, denn sonst wären der Tatverdächtige von Berlin, aber auch der Mörder einer Freiburger Studentin, der bereits in Griechenland wegen eines Mordversuchs in Haft saß, schon bei ihren Asylanträgen aufgeflogen.

Hat das System also versagt?
Es ist insofern ein systemisches Versagen, als einer grenzüberschreitenden Gefährdung durch eine grenzüberschreitende Abwehr begegnet werden muss. Wir brauchen also europäische Institutionen der Terror- und Kriminalitätsbekämpfung. Eine bloße Kooperation der Mitgliedsstaaten ist nicht genug. Damit ist aber eine Abgabe nationaler Kompetenzen an die europäische Ebene verbunden, die die nationalen Regierungen jedoch nicht besonders schätzen. Europa als Ganzes würde hierdurch aber gewinnen, nicht nur an Sicherheit, sondern auch dadurch, dass die Vorteile der Europäischen Union viel besser erkennbar wären.

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