WirtschaftsWoche Online: Herr Krieger, der IS hat sich zu dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt bekannt. Es ist das größte Attentat in einer ganzen Reihe von mutmaßlichen IS-Attentaten, die über Deutschland ergingen. Politiker aller Couleur fordern nun schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Ist das sinnvoll?
Tim Krieger: Momentan herrscht in der Politik das Gefühl vor, sehr viel tun zu müssen. Letztlich hat sich die Gefahrenlage in Deutschland aber nicht verändert, so spektakulär und grausam dieses Attentat auch wirkt. Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist weiterhin sehr unwahrscheinlich. Aus ökonomischer Sicht sind die Maßnahmen, die debattiert werden, recht hochgegriffen. Viele Wünsche der Innenpolitiker und Sicherheitsbehörden gibt es schon sehr lange, sie sind aber wegen ihres wenig überzeugenden Kosten-Nutzen-Verhältnisses in der Vergangenheit immer wieder vom Parlament abgelehnt worden. Sie waren zu teuer, an ihrer Effektivität und wegen der damit verbundenen Einschränkungen der Bürgerrechte bestanden Zweifel. Insgesamt sind die Forderungen eine sehr reflexartige, aber normale Reaktion. Vor dem Hintergrund der nächsten Bundestagswahl und dem Erstarken der AfD will keine Partei wirken, als unternähme sie nichts gegen die terroristische Bedrohung.
Das scheint kein reines AfD-Phänomen zu sein. Der CDU-Mann und Vorsitzende der Innenminister-Konferenz, Klaus Bouillon, sprach nach dem Anschlag vom „Kriegszustand“, auch wenn er das später wieder zurücknahm.
Das hat mit Unkenntnis, fehlender Sensibilität und der Ungenauigkeit der politischen Kommunikation zu tun. Aktuell versuchen viele, mit diesem Anschlag politische Gewinne zu erzielen, indem sie provozieren. Das halte ich für hoch problematisch. Davon profitieren nicht nur bestimmte Akteure aus dem politischen Bereich, sondern auch die Terroristen.
Inwiefern?
Terroristen haben ein Interesse daran, ein klares Feindbild heraufzubeschwören: Wir sind die Guten und die sind die Bösen. Genau so mobilisieren populistische Politiker Menschen. Eine scharfe Konfrontation spült den Jihadisten neue Mitglieder in die Hände. In dem Moment, in dem Moslems in Deutschland sehr stark unter politischen Druck geraten, gehen salafistische Anwerber auf sie zu: „Schaut mal, die Mehrheitsgesellschaft hasst euch. Darauf könnt ihr nur mit Hass reagieren.“ Das ist eine ganz einfache Strategie. Politiker, die das befeuern, handeln unverantwortlich. Sie schüren bewusst Ängste.
Welche Rolle spielen die Medien dabei?
Die reale Gefährdungslage gibt es nicht her, dass ein Thema wie Terrorismus hier über Tage so hoch gehängt wird. Natürlich sind die Menschen aufgewühlt und haben ein Informationsbedürfnis, dieses grausame Ereignis ist noch ganz frisch. Aber wenn wir Stimmen hören, die sagen, sie seien gestern noch über einen Weihnachtsmarkt gegangen und fühlten sich jetzt verunsichert, wird das Ganze sehr emotional. Die Medien transportieren diese Emotionen, was ja legitim ist. Sobald die Debatte allerdings emotional ist, ist es für Populisten ein Leichtes, mit ihren politischen Botschaften genau an dieser Stelle anzuknüpfen.
Das bedeutet der Anschlag von Berlin für die Sicherheit in Deutschland
Sicherheitsexperten glauben: Nein. Der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, sagt, die Gefährdungseinschätzung habe sich nicht verändert. „Wir haben schon vor der Tat gesagt, dass wir in Deutschland eine ernst zu nehmende Bedrohungslage haben. Dass der islamistische Terrorismus ganz maßgeblich die Sicherheitslage in Deutschland prägt“, betont er. Mit dem Attentat von Berlin habe sich die Gefährdungseinschätzung quasi realisiert. Deswegen geht Münch nun nicht von einer anderen Gefährdungslage aus.
Generalbundesanwalt Frank sagt, man müsse von einem terroristischen Hintergrund ausgehen. Dafür spricht nach seinen Angaben, dass ein Lkw benutzt wurde und der Anschlag in der deutschen Hauptstadt damit an das Attentat von Nizza vom 14. Juli erinnert. Am französischen Nationalfeiertag war ein islamistischer Attentäter mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast und hatte 86 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt.
Hinzu komme das prominente und symbolträchtige Anschlagsziel Weihnachtsmarkt, sagt Frank. Außerdem führt er die Vorgehensweise des Attentäters an, den „Modus operandi“. Der ist schon länger in Aufrufen dschihadistischer Terrororganisationen zu finden. Aber es gebe kein Bekennervideo - und deswegen seien endgültige und abschließende Aussagen zum Hintergrund des Anschlags nicht möglich, sagt Frank. Die Polizei ermittele nach wie vor in alle Richtungen.
Grundsätzlich ja und seit längerem. Aber: Noch gibt es keinen Beleg, das der Islamische Staat (IS) tatsächlich hinter der Attacke steckt. Den Sicherheitsbehörden lagen zunächst kein Bekennerschreiben und kein Bekennervideo vor. Grundsätzlich sind Deutschland genau wie Frankreich, Großbritannien, Spanien oder andere europäische Staaten quasi seit Jahren im Visier islamistischer Terroristen.
Auch hier gilt, was Experten seit langem sagen: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Zwar haben die Behörden in vielen Bundesländern die Sicherheitsmaßnahmen für Weihnachtsmärkte erhöht, zusätzliche Polizisten abgestellt und auch mehr Videoüberwachung installiert. Doch auch Betonpoller oder andere Schutzmaßnahmen dürften einen zu allem entschlossenen Attentäter kaum aufhalten.
Ja und Nein. Bis Montagabend war Deutschland von einem größeren Anschlag mit zahlreichen Toten und islamistischem Hintergrund verschont geblieben. Das hatte oft mit Glück, aber auch mit der Ermittlungsarbeit der deutschen Sicherheitsbehörden zu tun. Viele islamistische Heimkehrer aus den IS-Kriegsgebieten in Syrien und dem Irak sind als Gefährder bekannt und werden überwacht. Geholfen haben öfters auch die Kontakte zu befreundeten Geheimdiensten etwa wie dem umstrittenen US-Dienst National Security Agency (NSA). Die deutschen Geheimdienste haben in der Vergangenheit häufiger Tipps von ihren internationalen Kollegen erhalten.
Seit Tagen patrouillieren an den Bahnhöfen nun Polizisten mit Automatikwaffen. Erhöht das nicht die gefühlte Bedrohung?
In einer solchen Notsituation ist das ein Signal an die Bürger, dass die Politik etwas tut. Das stärkt kurzfristig das Sicherheitsgefühl, deswegen ist diese Maßnahme verständlich. Aber de facto wenig effektiv. Sie hilft nur temporär und ist konsumtiver Natur: Die Polizisten sammeln massenhaft Überstunden und in dem Moment, in dem sie die abbauen, ist die Sicherheit weg und es bleibt nichts. Das Denken, das in der Sicherheitsdebatte vorherrscht, ist sehr statisch. An bestimmten Orten versucht man, die Bedrohung komplett auszuschließen. Aber jemand, der töten will, findet immer eine Menschenmenge, in die er hineinfahren kann oder in der er eine Bombe zünden kann. Das Perfide an Terroristen ist ja, dass sie sich genau die Orte für ihren Anschlag aussuchen, die besonders erfolgsversprechend sind. Sie haben für ihre Tat meist nur eine Chance. Sehr stark gesicherte Ziele greifen Terroristen im Zweifelsfall nicht an, aber wir können nicht jeden öffentlichen Platz mit Polizisten absichern. Von daher müssen wir realistisch bleiben. Zumal viele der diskutierten Maßnahmen viel Geld kosten, das an anderer Stelle gebraucht wird.