AOK-Pflegereport Psycho-Pillen in deutschen Altenheimen

Jeder zweite Demenzkranke wird im Heim mit Medikamenten gegen Schizophrenie ruhig gestellt. Das geht aus dem neuen Pflegereport der AOK hervor. Dabei sind die meisten Medikamente gar nicht für Demente zugelassen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
18 Schlaganfälle und zehn Todesfälle hätten bei Verzicht auf den Einsatz der Medikamente vermieden werden können. Quelle: dpa

Berlin Es ist ein gängiges Horrorszenario über das Leben in den letzten Monaten: Angebunden im Pflegebett und mit Medikamenten ruhig gestellt. Ganz so grässlich ist die Wirklichkeit zwar nicht. Doch was den Einsatz von Medikamenten betrifft, tun Ärzte und Pflegedienste ein wenig zu viel des Guten. Darauf deutet der aktuelle Pflegereport der AOK hin. Demnach erhält von den 800.000 Menschen, die wegen Pflegebedürftigkeit derzeit in einem Heim untergebracht sind, jeder Dritte dauerhaft Medikation gegen Despressionen, jeder Fünfte Neuroleptika gegen angebliche Psychosen, acht Prozent so genannte Anxiolytika gegen Angststörungen und zwölf Prozent Beruhigungsmittel und Hypnotika. Besonders massiv ist die Behandlung mit auf die Psyche wirkenden Medikamenten bei Demenzkranken: Mit 43 Prozent erhält fast jeder Zweite dauerhaft Neuroleptika.

„In vielen Fällen liegt gerade hier eine Fehlbehandlung vor“, warnt Petra Thürmann, Pharmakologin von der Universität Witten Herdecke. Grundsätzlich hält sie es nicht für verwunderlich, dass gerade bei Dementen so stark zu Beruhigungsmitteln und psychoaktiven Substanzen gegriffen wird. „Bei bis zu 90 Prozent der Menschen mit Demenz muss mit dem Auftreten von  neuropsychiatrischen Veränderungen und bei etwa 40 bis 60 Prozent mit psychischen Verhaltensstörungen, von ausgeprägter Unruhe bis hin zu verbaler und physischer Aggression gerechnet werden.“ Diese Auffälligkeiten ließen sich teilweise durch Neuroleptika dämpfen.

Doch das hilft wohl eher dem Pflegepersonal bei der „Handhabung“ der Heimbewohner, als den Patienten selbst. Die Medikamente seien für die Verwendung bei Demenzkranken meist gar nicht zugelassen, sagt Thürmann. „Neuroleptika werden als Medikamente zur Behandlung krankhafter Wahnvorstellungen, sogenannter Psychosen entwickelt und geprüft. Nur sehr wenige Wirkstoffe sind auch für die Behandlung von Wahnvorstellungen bei Demenz zugelassen.“ 

Maximal dürften sie dabei für etwa sechs Wochen eingesetzt werden. Eine Studie aus dem Jahr 2009 belegt, dass von 1000 Patienten mit Verhaltensstörungen bei Demenz nach Einnahme von Neuroleptika über drei Monate nur 91 bis 200 eine spürbare Besserung ihres Gesundheitszustands erfahren. Gleichzeitig können die Nebenwirkungen verheerende Auswirkungen mit sich bringen.

18 Schlaganfälle und zehn Todesfälle hätten bei Verzicht auf den Einsatz der Medikamente vermieden werden können. Wird die Therapie über zwei Jahre fortgesetzt, seien 167 zusätzliche Todesfälle zu erwarten. Selbst in den Fällen, in denen psychotische Zustände erfolgreich gedämpft werden, verschlimmert der Einsatz der Mittel oft das zu Grunde liegende Krankheitsbild: Die geistige Leistungsfähigkeit werde weiter verschlechtert. Die Patienten werden aber auch körperlich unsicherer, was das Sturzrisiko erhöhe. Zudem steige die Wahrscheinlichkeit einer Thrombose oder eines Schlaganfalls.


Pfleger und Ärzte in der Pflicht

Aber auch andere Länder greifen bei der Behandlung dementer Patienten zum Einsatz von Neuroleptika: So erhalten in Spanien sogar 54 Prozent der dementen Pflegebedürftigen Antipsychotika, in Estland sind es 48 Prozent. Doch es gibt auch Alternativen. „Es gibt zahlreiche Wege, den Einsatz von Neuroleptika zu verringern“, erklärt Thürmann. „Das sind unter anderem eine angemessene Schmerztherapie, persönliche Zuwendung und das Erlernen von Fähigkeiten, mit dem teilweise sehr belastenden Verhalten von Menschen mit Demenz umzugehen.“ Doch dafür fehle in deutschen Heimen oft ganz einfach das Personal.

Das wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen hat im vergangenen Sommer auch vor diesem Hintergrund bundesweit 4000 repräsentativ ausgewählte Pflegeheime angeschrieben. Rund 2500 examinierte Fachkräfte nahmen an der Umfrage teil, darunter rund die Hälfte in leitender Funktion. Sie bestätigten zum einen die hohe Belastung durch den Umgang mit dementen Heimbewohnern: Drei von vier erfahren nach eigenen Angaben „verbal auffälliges“ oder „körperlich unruhiges“ Verhalten. 15 bzw. elf Prozent berichten von körperlich aggressivem bzw. enthemmtem Verhalten. Mehr als jede fünfte Pflegekraft gab an, bei den behandelnden Ärzten auf die Verschreibung von Psychopharmaka zu drängen. Jeder Vierte macht dies sogar regelmäßig.

Grundsätzlich haben Pflegekräfte damit auch kein Problem. Sie gaben bei der Befragung an, dass im Durchschnitt 56 Prozent der Bewohner in einem Wohnbereich Psychopharmaka erhielten. Bei herausforderndem Verhalten bei Demenz würden solche Mittel in 64 Prozent der Fälle sogar länger als ein Jahr eingesetzt. 82 Prozent der Befragten halten das für angemessen.

AOK-Chef Martin Litsch warnte, diese Daten nun dazu zu missbrauchen, Horrorszenarien zu entwickeln. Aber die erhobenen Daten wiesen sehr wohl auf „echte Defizite“ hin. Litsch ist jedoch überzeugt, dass das Pflegepersonal daran die geringste Schuld treffe. Er sieht vielmehr die Ärzte in der Pflicht. „Sie dürfen diese Medikamente nur einsetzen, wenn es nicht anders geht und nur so kurz wie möglich.“

Die Pflegeheimbetreiber müssten ergänzend Versorgungsansätze fördern, die ohne Medikamente auskommen. Dabei ginge es nicht darum, noch mehr Geld und Personal einzusetzen. Vielmehr müssten Kultur und Grundkonzept in Pflegeheimen überdacht werden.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%