Arbeitsmarkt Kosten für die Eingliederungshilfe explodieren

Jahr für Jahr steigen die Ausgaben für die Unterstützung behinderter Menschen, zuletzt waren es mehr als 13 Milliarden Euro. Ursache für die aus dem Ruder laufenden Kosten sind jedoch nicht steigende Fallzahlen oder ehrenwertes Samaritertum, sondern eine Kultur des Wegschauens und Abschiebens.

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Abdulhady-Ay (links) und Lothar Puzicha Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche

Abdulhady Ay kennt diesen Blick. Jeder, der den 25-Jährigen zum ersten Mal an seinem Arbeitsplatz trifft, mustert den stoppelbärtigen jungen Mann mit der kräftigen Statur wie einen ungewöhnlich günstigen

Gebrauchtwagen. Irgendwo muss der doch eine Macke haben. Schließlich kommt Abdulhady von der Behindertenwerkstatt Gelsenkirchen. Seine Augen: scheu, aber fokussiert; die Bewegungen: langsam, doch kontrolliert; die Sprache: konstante Tonlage, schlüssige Formulierungen; wo ist das Problem?

Abdulhady schreit die Leute nicht an und lebt auch nicht in einer eigenen fernen Welt. Er ist, was sie hier einen Grenzgänger nennen. Wenn er mit Freunden Fußball spielt oder ins Kino geht, fällt er nicht weiter auf. Er gilt als lernbehindert, kann nicht rechnen, auch mit dem Lesen hapert es. Er selbst sieht es so: „Einen normalen Job werde ich niemals ausüben können, das geht einfach nicht.“

Nachfrage nach Eingliederungshilfe steigt

Deswegen ist Abdulhadys Problem unser aller Sorge. Knapp 730.000 Menschen in Deutschland bezogen 2009 Eingliederungshilfe, wurden also aufgrund ihrer Behinderung staatlich betreut. Das sind sechs Prozent mehr als im Jahr davor. 13,3 Milliarden Euro kostete das den Staat, innerhalb von 15 Jahren haben sich Kosten und Fallzahlen somit verdoppelt. „Eine Trendumkehr ist nicht abzusehen. Nach Lage der Dinge muss eher von einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach Leistungen der Eingliederungshilfe in der Zukunft ausgegangen werden“, sagen die Beamten der zuständigen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen. Ihre zweite große Sozialleistung, die Grundsicherung nach Hartz IV, schlägt pro Jahr mit fünf Milliarden Euro zu Buche.

Wie viele Arbeitnehmer Eingliederungshilfe beziehen und was sie im Vergleich zur gesamten Sozialhilfe kostet Quelle: Destatis

Der grundsätzliche Wert dieser Leistung steht nicht infrage. Der überwiegende Teil der Menschen, die Werkstätten für Behinderte besuchen, ist auf Hilfe angewiesen und findet sie auch. Bloß: Warum steigt die Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten, während sie in der Gesamtbevölkerung so niedrig ist wie nie zuvor? Warum schaffen nur 2 von 1000 Beschäftigten in Behindertenwerkstätten den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt? Schließlich verheißt schon der Name Eingliederungshilfe, dass es zumindest bei einem Teil der Menschen darum geht, sie an den regulären Arbeitsmarkt heranzuführen.

Warum steigt überhaupt die Zahl der Behinderten, wo doch das demografische Pendel zurückschwingt? Die Verantwortlichen haben darauf zwei Antworten: Bei den älteren Jahrgängen wirke sich noch immer das Euthanasie-Programm der Nazis aus, und der medizinische Fortschritt erhöht die Lebensdauer vieler Betroffener. Beide Argumente sind nicht falsch, können aber den Trend nicht erklären.

Die Jahrgänge aus der Nazizeit wachsen jetzt aus dem Erwerbsleben heraus, und aus dem medizinischen Fortschritt lassen sich auch Gründe dafür ableiten, dass bestimmte Erkrankungen gar nicht mehr in Behinderungen enden müssen. So ist der Zweck der Argumente auch weniger, Antworten zu geben, als vielmehr jede weitere Nachfrage zu verhindern. Wer es trotzdem tut, stößt auf andere Gründe. Dann geht es nicht mehr allein um die notwendige Hilfe für Bedürftige, sondern auch um karitative Budgetmaximierer, amtliche Statistikakrobaten und machthungrige Behördenfürsten, deren unheilvolles Zusammenwirken den Staat inzwischen mehr kostet als jede andere Sozialleistung im Land.

Steigende Eingliederungskosten

Eine geistig behinderte Mitarbeiterin arbeitet in der Behindertenhilfe Bergstraße in Bensheim Quelle: dpa

Wolfgang Kirsch ist einer der wenigen, die das ganze Ausmaß dieser finanziellen Last überblicken können. Er ist 61 Jahre alt, durch kleine, runde Brillengläser schaut er aus seinem Büro am Münsteraner Stadtring auf die Welt. „Die Kosten für die Eingliederungshilfe haben inzwischen eine Dimension erreicht wie in der Pflege Mitte der Neunzigerjahre“, sagt Kirsch. Er verweist auf die Zahl von 500.000 Pflegebedürftigen, die in den Neunzigerjahren Anlass für die Einführung einer neuen Sozialversicherung gaben. Kirsch war Stadtdirektor im bergischen Städtchen Wipperfürth, Oberkreisdirektor und Landrat im westfälischen Warendorf, er kennt die Probleme von dort, wo sie entstehen.

Überforderte Kommunen

Jetzt ist er Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und steht einer von zwei Institutionen vor, mit denen die Gemeinden in NRW ihre Sozialausgaben abwickeln. In den meisten anderen Bundesländern kümmern sich die Kommunen selbst um die Behinderten, da fallen ein paar versprengte Millionen kaum auf. Anders in NRW: Allein der LWL machte 2011 ein Minus von mehr als 200 Millionen Euro, im Schwesterverband Rheinland lag der Fehlbetrag sogar noch höher. „Ursache sind allein die steigenden Kosten für die Eingliederungshilfe“, sagt Kirsch. Ändern kann er daran jedoch kaum etwas. Denn die Eingliederungshilfe ist eine Pflichtleistung. Wer als förderberechtigt anerkannt wird, dem steht sie zu. Doch darüber entscheidet nicht der LWL.

Kirsch könnte die Verluste zwar auf die Gemeinden abwälzen. Doch: „Die Kommunen sind finanziell so überfordert, da können wir es nicht vertreten, sie mit höheren Ausgaben zu belasten“, sagt Kirsch. Was nach netter Geste klingt, heißt für Steuerzahler und Staat nur, dass die Verpflichtungen von der einen löchrigen Tasche in die andere wandern.

Unklare Strukturen

Schuld an den ausufernden Kosten trägt zum einen die Organisation der Behindertenhilfe in Deutschland. Bei keiner anderen Sozialleistung sind die Zuständigkeiten und Verpflichtungen so verworren wie hier. Die Renten zahlt der Bund, Arbeitsmarktintegration betreiben sowohl die Integrationsämter der Länder als auch die Arbeitsagentur. Das Geld dafür kommt wiederum aus den Abgaben von Unternehmen und vom Bund. Die Werkstätten werden in den meisten Ländern von den Kommunen, in einigen Ausnahmefällen auch vom Land finanziert.

Jede Instanz verwaltet nur einen Teil der Gelder; zahlt ein anderer, ist das Problem erledigt. Nur für die Gesellschaft insgesamt wird es stetig teurer. Kostenträger Kirsch fasst seine Sicht zusammen: „Über die Hilfen für Behinderte entscheidet der Bund, es bezahlen die Kommunen, und von den Steuerzahlungen der Beschäftigten im Sozialsektor profitiert wiederum der Bund.“ Wenn es bloß so einfach wäre.

Das Dilemma nimmt seinen Lauf, sobald ein Behinderter die Förderschule verlässt. Bis dahin hat die Gemeinde die Gebäude, das Land das Personal bezahlt. Doch nach Schulende tritt die Bundesagentur für Arbeit auf den Plan. In „berufsvorbereitenden Maßnahmen“ lotet sie aus, ob Hoffnung auf Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt besteht. Geförderte Beschäftigung, Weiterbildung, es gäbe da eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Bloß: Sobald der Behinderte Arbeit sucht, gilt er als arbeitslos, bekommt Geld von der Arbeitsagentur, sprich vom Bund. Auch in der Statistik sieht er unschön aus. In einer Maßnahme gilt er zwar nicht als arbeitslos, zahlen muss der Bund aber trotzdem.

Von Institution zu Institution

Norbert Struck Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche

Deutlich günstiger wird die Werkstatt, denn hier zahlen die Gemeinden. Einzige Hürde: Paragraf 53, Sozialgesetzbuch XII. Anspruch auf einen Werkstattplatz haben Betroffene demnach nur dann, wenn sie „wesentlich“ in ihrer Fähigkeit eingeschränkt sind, „an der Gesellschaft teilzuhaben“, also nicht mehr als drei Stunden am Tag arbeiten können. Glück für die Arbeitsagenturen, dass sie bei der Entscheidung darüber per Gesetz das letzte Wort haben. Die Gemeinden, die die Kosten übernehmen müssen, können nur Empfehlungen abgeben. Als Grundlage dafür dient ihnen ein Gutachten, das die Werkstätten verantworten, bei denen schon die Berufsvorbereitung stattfindet. Und für die bedeutet jeder neue Mitarbeiter: Das Budget wächst. Darüber, wer als behindert gilt, entscheiden somit allein diejenigen, die davon profitieren, wenn es so ist. Auch wenn man allen Beteiligten den besten Willen unterstellt, es ist die Lehrbuchdefinition eines Interessenkonflikts.

Unerreichbarer Arbeitsmarkt

So ist auch Abdulhady in der Werkstatt gelandet, ohne überhaupt zu ahnen, dass er vielleicht eine andere Chance gehabt hätte. Dass die ersten drei Jahre nach der Förderschule noch als Berufsvorbereitung dienten, hieß für Abdulhady nur, dass er sich mit seiner Gruppe in einem anderen Raum aufhielt als das Stammpersonal. Seit seinem sechsten Lebensjahr befindet er sich somit ohne Unterbrechung in Institutionen, die schon beim Betreten klarmachen: Wer hier hingeht, ist nicht normal. Kein Wunder, dass der Arbeitsmarkt ihm längst als unerreichbare Illusion erscheint.

Norbert Struck sieht das Gleiche wie Abdulhady, aber aus einem anderen Blickwinkel: „Wir sind heute eine der größten Werkstätten im Rheinland“, sagt er stolz. In den Achtzigerjahren kam er als junger Sozialarbeiter zum ersten Mal in die Werkstatt im Kölner Stadtteil Pesch. Anfangs kümmerte sich dort eine Handvoll Pfleger um ein paar Dutzend Behinderte. Heute ist Struck Geschäftsführer der Gemeinnützigen Werkstätten Köln und führt durch eine Montagehalle vom Ausmaß eines Schiffsdocks. „Fast 2000 Menschen sind inzwischen bei uns beschäftigt“, sagt Struck. Sie fertigen Kupplungspedale für das nahe Ford-Werk, außerdem werden hier Ersatzteile etikettiert. Für fast alle Beteiligten ist das ein gutes Geschäft. Der Autobauer kann die Aufträge an die Werkstatt beim Integrationsamt geltend machen und vermeidet so die Ausgleichsabgabe, die Unternehmen zahlen müssen, in denen zu wenige Schwerbehinderte beschäftigt sind. Für die Behinderten ist die Werkstatt das Korsett, das sie in Kauf nehmen, um Anspruch auf attraktive Sozialleistungen zu haben: Nach 15 Jahren Arbeit ist hier das Rentenalter erreicht. Auch für die Angehörigen von Behinderten bedeutet der Eintritt in die Werkstatt, dass eine große Betreuungslast von ihnen abfällt. Für die Werkstatt selbst heißt Größe Wichtigkeit, je mehr Behinderte hier arbeiten, desto mehr Personal kann sie selbst ernähren, umso effizienter kann sie produzieren.

Kosmos Werkstatt

„Wir bieten für die Mitarbeiter ein umfassendes Freizeitprogramm – von Schwimmen bis zu Physiotherapie und Bewegungstraining“, erzählt Struck, „sogar den Urlaub können sie bei uns buchen.“ 2011 hat die Lebenshilfe Köln, Betreiber der Werkstatt, 14 Urlaubsreisen organisiert. Es gibt Mittagessen und einen Kiosk. Abends geht es in die organisationseigenen Wohnanlagen, mancherorts wird sogar der Fahrdienst vom Werkstattbetreiber organisiert. Beinahe alles Geld, was der Behinderte von seinem knappen Lohn und Zuwendungen von Verwandten übrig hat, bleibt im Kosmos Werkstatt. Für die Betreiber ist das ein einträgliches, für die Unternehmen ein preisgünstiges und für die behinderten Menschen ein auskömmliches System. Nur mit Eingliederung in den Arbeitsmarkt und gesellschaftlicher Teilhabe hat es wenig zu tun.

Abdulhady hat genau diese Situation immer gehasst. „Ich hatte in der Werkstatt nie das Gefühl, dass meine Arbeit wirklich gebraucht wird.“ Erst brachte man ihm ein bisschen kochen bei, dann gärtnern. So hätte das die nächsten Jahre weitergehen können, immer gut versorgt, doch ohne Verantwortung, ohne Aufgabe. Für viele Menschen in Werkstätten ist das genau das richtige Umfeld, für Grenzfälle wie Abdulhady ist es der Horror. Man ist hier gut versorgt, aber abgesondert. Es ist warm und angenehm, aber es erwartet auch niemand etwas von ihm. Alles geschieht aus Mitleid.

Widersprüchliche Ziele

Ein Schild mit der Aufschrift Arbeit Quelle: dpa

Wer erst einmal in dem System drinsteckt, hat kaum eine Chance, es wieder zu verlassen. Dabei ist genau das seit Jahren erklärtes Ziel der Kommunen. Dazu hat man eine Reihe von Programmen erfunden. Sie heißen persönliches Budget, Außenarbeitsplatz oder unterstützte Beschäftigung. Doch durchschlagenden Erfolg hat bisher keines gehabt, zumindest nicht in dem Sinne, dass es die Zahl der Beschäftigten bei Werkstätten signifikant gesenkt hätte.

Nach wie vor liegt die Vermittlungsquote der Werkstätten bei unter 0,2 Prozent, auf Nachfrage können sich viele Werkstätten nicht an eine einzige Vermittlung aus ihrer Werkstatt erinnern, der Begriff „Eingliederungshilfe“ ist da ein purer Euphemismus. Beispiel Außenarbeitsplätze: Die Idee besagt, dass sich ein Unternehmen bereit erklärt, einen Arbeitsplatz für einen Behinderten einzurichten. Der Behinderte bleibt aber zunächst im Beschäftigungsverhältnis mit der Werkstatt, die sich weiter um ihn kümmert und dem Unternehmen einen kleinen Obolus berechnet. Ist das Unternehmen mit dem Arbeitnehmer zufrieden, kann es sich sodann entscheiden, seine Beschäftigung in ein normales Arbeitsverhältnis umzuwandeln.

Unattraktive Übernahme

Werkstattleiter Struck jedoch, der sich rühmt, mit sieben Prozent deutschlandweit eine der höchsten Quoten von Außenarbeitsplätzen zu erreichen, räumt ein: „Im vergangenen Jahr gab es nur eine einzige Übernahme.“ Man kann ihm daraus kaum einen Vorwurf machen. Denn die Umwandlung in eine normale Arbeitsstelle ist sowohl für die Werkstatt wie für den Arbeitgeber maximal unattraktiv. Von den Arbeitgebern verlangt das Modell, einer Arbeitskraft statt wenigen Hundert mehrere Tausend Euro zu bezahlen und sich zudem über Jahre an sie zu binden, ohne dass sich an der Arbeitsleistung etwas ändert. Die Behinderten müssen die totale Absicherung gegen das Risiko von Arbeitslosigkeit und Armut tauschen. Von den Werkstätten wiederum fordert es nichts anderes, als ihre besten Mitarbeiter freiwillig an andere Unternehmen zu vermitteln.

Die Werkstätten sehen sich mit widersprüchlichen Zielen konfrontiert. Für ihre Beschäftigten sollen sie den normalen Unternehmensbetrieb simulieren. Je mehr sie produzieren, umso besser. Zugleich aber verlangt man von ihnen die Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt. Um das jedoch erfolgreich zu betreiben, müssten sie zwangsläufig den betriebswirtschaftlichen Erfolg der Werkstatt schmälern.

Ein Blick in die Vergangenheit

Wer verstehen will, wie es so weit gekommen ist, muss weit in die Vergangenheit zurückgehen. Wenn Karl-Josef Laumann sich an seine Jugend erinnert, denkt er auch an Behinderte als selbstverständlichen Teil der Arbeitswelt. Der 54-Jährige steht der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) vor, dem sozialen Gewissen der CDU. Er sagt: „Die Sorge für Behinderte ist die Königin der Sozialpolitik.“

Seine Jugend hat er im Wirtschaftswunder erlebt. Damals bedeutete „behindert“ meist „kriegsversehrt“. Solidarität mit den Betroffenen war schon deshalb selbstverständlich, weil es in fast jeder Familie einen gab. So fanden sie auch in Unternehmen ihren Platz, oft als Boten oder hinter der Pforte, so wie in der Gießerei Niemeyer, wo Laumann als Maschinenschlosser arbeitete. Als die ersten Werkstätten für Behinderte öffneten, sollten sie mehr als einen Platz zum Dahinvegetieren bieten. Es ging um die Menschen, bei denen Vermittelbarkeit ausgeschlossen war. Die Werkstätten wurden ein Erfolg.

Nachlassendes Engagement in Unternehmen

Ein Passant neben dem Logo der Konzernzentrale der Bayer AG Quelle: dapd

Doch mit dem technischen Fortschritt sind viele einfache Tätigkeiten verschwunden, mit den Kriegsversehrten ist zudem irgendwann in den Achtziger- oder Neunzigerjahren die Solidarität gestorben. Schon 1953 führte der Bund die „Ausgleichsabgabe“ ein, sie verpflichtete Unternehmen, mindestens sechs Prozent behinderte Menschen zu beschäftigen, später sank die Grenze auf fünf. Wer drunter bleibt, muss zahlen. So sollten die Unternehmen genötigt werden, das aufrechtzuerhalten, was sie lange freiwillig taten. Vergebens.

Nur 7 von 30 Dax-Konzernen erfüllen heute die vorgeschriebene Quote. Giganten wie Bayer, deren Beschäftigtenzahl die Einwohnerschaft einer Kleinstadt locker übertrifft, stellen weniger als eine Handvoll Schwerbehinderte im Jahr ein. Adidas gibt zwar viel Geld für das Sponsoring der Paralympics, die Olympischen Spiele für behinderte Menschen, aus, beschäftigt mit knapp 2,5 Prozent der Belegschaft zugleich aber so wenige Schwerbehinderte wie kaum ein anderer Konzern im Land.

Werkstätten als Lückenschließer

Die Lücke, die das nachlassende Engagement der Unternehmen gerissen hat, mussten die Werkstätten schließen. Im Laufe der Jahre ist ihre Zahl deshalb immer weiter gewachsen. Zwar wird es immer Menschen geben, die dauerhaft Hilfe brauchen. Doch es gibt auch die, die fähig wären, ins normale Leben zurückzufinden. Für sie ist die Behindertenwerkstatt ganz offensichtlich der falsche Ort.

Laumann fordert deshalb, mit der seit einigen Jahren von der Politik propagierten „Inklusion“ Behinderter endlich auch auf dem Arbeitsmarkt ernst zu machen. Bei der immer größeren Zahl von Grenzfällen, von nicht im klassischen Sinne geistig behinderten Menschen, die dennoch in der Werkstatt landen, sei „das menschliche Leid am größten“. Dafür jedoch müsse der Bund „mehr finanzielle Verantwortung übernehmen“, schließlich sei offensichtlich, wie überfordert viele Gemeinden bereits seien.

Arbeit wie in einem richtigen Unternehmen

Wie es gehen könnte, zeigt wiederum Abdulhady. Seit knapp einem Jahr arbeitet er in einem sogenannten Integrationsunternehmen, der Gewürzmanufaktur Fortkamp und Wiegers in Gelsenkirchen. „Er macht einen gewissenhaften und zuverlässigen Job“, sagt Lothar Puzicha. Der Betriebsleiter kennt den jungen Mann schon aus seiner Zeit in der Gelsenkirchener Werkstatt, wo Puzicha, 65, sich nach einer langen Unternehmerkarriere bis zum vergangenen Jahr um die Arbeitsmarktintegration kümmerte. Abdulhady sei geradezu aufgeblüht, seitdem er nicht mehr in der Werkstatt arbeitet. „Man merkt ihm an, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben selbst etwas zutraut.“ Einmal in der Woche übt Abdulhady inzwischen nach der Arbeit Lesen in der Volkshochschule, außerdem nimmt er Fahrstunden.

Das Integrationsunternehmen gehört zwar zu den Gelsenkirchener Werkstätten, hier hat jedoch nur die Hälfte der Beschäftigten eine Behinderung. Dafür bekommt das Unternehmen Zuschüsse, einen Teil des Lohns übernimmt der Landschaftsverband. Ansonsten muss es aber selbstständig am Markt bestehen. Für Abdulhady bedeutet das, dass sich arbeiten hier fast wie in einem richtigen Unternehmen anfühlt. Für den Landschaftsverband, dass er nur noch die Hälfte kostet. Das Modell ist zwar nur ein erster Schritt. Aber im Gegensatz zur Behindertenpolitik der vergangenen 30 Jahre geht er wenigsten in die richtige Richtung.

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