Arbeitsmarkt Kosten für die Eingliederungshilfe explodieren

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Steigende Eingliederungskosten

Eine geistig behinderte Mitarbeiterin arbeitet in der Behindertenhilfe Bergstraße in Bensheim Quelle: dpa

Wolfgang Kirsch ist einer der wenigen, die das ganze Ausmaß dieser finanziellen Last überblicken können. Er ist 61 Jahre alt, durch kleine, runde Brillengläser schaut er aus seinem Büro am Münsteraner Stadtring auf die Welt. „Die Kosten für die Eingliederungshilfe haben inzwischen eine Dimension erreicht wie in der Pflege Mitte der Neunzigerjahre“, sagt Kirsch. Er verweist auf die Zahl von 500.000 Pflegebedürftigen, die in den Neunzigerjahren Anlass für die Einführung einer neuen Sozialversicherung gaben. Kirsch war Stadtdirektor im bergischen Städtchen Wipperfürth, Oberkreisdirektor und Landrat im westfälischen Warendorf, er kennt die Probleme von dort, wo sie entstehen.

Überforderte Kommunen

Jetzt ist er Direktor des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und steht einer von zwei Institutionen vor, mit denen die Gemeinden in NRW ihre Sozialausgaben abwickeln. In den meisten anderen Bundesländern kümmern sich die Kommunen selbst um die Behinderten, da fallen ein paar versprengte Millionen kaum auf. Anders in NRW: Allein der LWL machte 2011 ein Minus von mehr als 200 Millionen Euro, im Schwesterverband Rheinland lag der Fehlbetrag sogar noch höher. „Ursache sind allein die steigenden Kosten für die Eingliederungshilfe“, sagt Kirsch. Ändern kann er daran jedoch kaum etwas. Denn die Eingliederungshilfe ist eine Pflichtleistung. Wer als förderberechtigt anerkannt wird, dem steht sie zu. Doch darüber entscheidet nicht der LWL.

Kirsch könnte die Verluste zwar auf die Gemeinden abwälzen. Doch: „Die Kommunen sind finanziell so überfordert, da können wir es nicht vertreten, sie mit höheren Ausgaben zu belasten“, sagt Kirsch. Was nach netter Geste klingt, heißt für Steuerzahler und Staat nur, dass die Verpflichtungen von der einen löchrigen Tasche in die andere wandern.

Unklare Strukturen

Schuld an den ausufernden Kosten trägt zum einen die Organisation der Behindertenhilfe in Deutschland. Bei keiner anderen Sozialleistung sind die Zuständigkeiten und Verpflichtungen so verworren wie hier. Die Renten zahlt der Bund, Arbeitsmarktintegration betreiben sowohl die Integrationsämter der Länder als auch die Arbeitsagentur. Das Geld dafür kommt wiederum aus den Abgaben von Unternehmen und vom Bund. Die Werkstätten werden in den meisten Ländern von den Kommunen, in einigen Ausnahmefällen auch vom Land finanziert.

Jede Instanz verwaltet nur einen Teil der Gelder; zahlt ein anderer, ist das Problem erledigt. Nur für die Gesellschaft insgesamt wird es stetig teurer. Kostenträger Kirsch fasst seine Sicht zusammen: „Über die Hilfen für Behinderte entscheidet der Bund, es bezahlen die Kommunen, und von den Steuerzahlungen der Beschäftigten im Sozialsektor profitiert wiederum der Bund.“ Wenn es bloß so einfach wäre.

Das Dilemma nimmt seinen Lauf, sobald ein Behinderter die Förderschule verlässt. Bis dahin hat die Gemeinde die Gebäude, das Land das Personal bezahlt. Doch nach Schulende tritt die Bundesagentur für Arbeit auf den Plan. In „berufsvorbereitenden Maßnahmen“ lotet sie aus, ob Hoffnung auf Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt besteht. Geförderte Beschäftigung, Weiterbildung, es gäbe da eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Bloß: Sobald der Behinderte Arbeit sucht, gilt er als arbeitslos, bekommt Geld von der Arbeitsagentur, sprich vom Bund. Auch in der Statistik sieht er unschön aus. In einer Maßnahme gilt er zwar nicht als arbeitslos, zahlen muss der Bund aber trotzdem.

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