Von Berlin nach Bad Wilsnack sind es mit dem Zug nicht einmal anderthalb Stunden, aber man darf getrost davon ausgehen, dass von den 27 Arbeitsministern und 20 europäischen Staats- und Regierungschefs und auch von den EU-Würdenträgern José Manuel Barroso und Herman Van Rompuy, die alle am Mittwoch in der deutschen Hauptstadt ihre Aufwartung machen werden, keiner den Weg zu Wolfgang Weiß nach Bad Wilsnack finden wird.
Dabei könnte die Garde der Spitzenpolitiker in dem brandenburgischen Städtchen sehr Handfestes lernen für ihren Kampf gegen die arbeitslose Jugend auf den Straßen Madrids, Athens oder Roms; mehr jedenfalls, als im Kanzleramt wohl in Erfahrung zu bringen sein wird. Es genügt, einfach Weiß durch seinen Betrieb zu folgen und ein wenig zuzuhören. "Jede Firma, die an ihre eigene Zukunft denkt, braucht Azubis", sagt der Familienunternehmer. "Ohne sie mag es ein paar Jahre gut gehen. Aber eine echte Perspektive haben wir nur, wenn wir ausbilden."
Keine Produktion in Billiglohnländern
Zu DDR-Zeiten produzierte seine Firma Cleo Skribent für sozialistische Brüdervölker, seit der Wende aber verkaufen sie die feinen Federhalter bis nach New York, Tokio oder Shanghai. Rund 180 000 Füller und anderes edles Schreibgerät verlassen Jahr für Jahr die kleine Manufaktur, außerdem filigrane Komponenten für Montblanc, Pelikan oder Faber-Castell. Jedes später noch so unsichtbare Teil produzieren 50 Mitarbeiter ausschließlich in Bad Wilsnack, nicht einmal schnöde Plastikröhrchen würde Weiß in China oder Vietnam pressen lassen – es wäre mit seinem Begriff von Wertarbeit einfach nicht zu vereinbaren.
Diesen Anspruch hat Weiß auch an sein Personal, deswegen überlässt er deren Ausbildung Leuten, denen er vertraut: seinen eigenen. Drei Azubis pendeln momentan zwischen der Berufsschule und dem Werk, um bei Cleo Werkzeugmacher oder Kunststoffverfahrenstechnik zu lernen. "Und wen wir ausbilden", sagt Weiß, "den wollen wir auch halten."
Deutsche Ausbildung wird immer beliebter
Mit made in Germany, das sieht Wolfgang Weiß Jahr für Jahr in seinen Bilanzen, kann man auf der ganzen Welt gutes Geld verdienen. Neu allerdings ist, dass auch "Trained in Germany" auf dem Weg ist, zu einem globalen Markenzeichen teutonischer Qualität zu avancieren. Minister und Fachdelegationen pilgern derzeit in die Bundesrepublik, um die Symbiose von Berufsschulen und praktischer Lehre in den Betrieben zu studieren. Ein Labsal für all die Verfechter der dualen Ausbildung, die sich lange Zeit von der OECD für die zu magere deutsche Akademikerquote maßregeln lassen mussten.
Geradezu beseelt war jüngst Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen von Ex-US-Präsident Bill Clinton. Der lobte bei einer internationalen Konferenz in Madrid in wenigen Worten, aber sehr kundig das deutsche Ausbildungswesen. Die anwesende Ministerin glühte vor Glück.
Angesichts explodierender Jugendarbeitslosigkeit in einigen EU-Südländern gilt die duale Ausbildung als eines der probatesten Mittel gegen die Jobmisere der heranwachsenden Generation. 5,6 Millionen Europäer zwischen 15 und 24 haben momentan keine Arbeit, der deutsche Arbeitsmarkt hingegen floriert mit weniger als 2,9 Millionen Arbeitslosen. Und die Jugendarbeitslosenquote liegt mit 5,6 Prozent sogar noch unter dem allgemeinen Wert von 6,6 Prozent.
Ein Vorbild für ganz Europa
"Dank der dualen Ausbildung gelingt in Deutschland ein recht sanfter Einstieg in den Arbeitsmarkt", lobt der Essener Wirtschaftsweise Christoph Schmidt. "Unser nachhaltig denkender Mittelstand und die praktischen Fertigkeiten der Azubis sind offenbar eine sehr gut funktionierende Kombination." Rund 27 Milliarden Euro lassen sich deutsche Unternehmen jedes Jahr die Ausbildung des eigenen Nachwuchses kosten. Selbst der britische "Economist" adelte den deutschen Weg der lebensnahen Qualifizierung jüngst als Vorbild für ganz Europa.
Der Berliner Job-Gipfel auf Einladung von Kanzlerin Angela Merkel soll deshalb nicht nur Milliarden für Europas darbende Jugend lockermachen, sondern auch den Export des dualen Systems voranbringen. Vor allem von der Leyen hat erkannt, welche Profilierungschancen in dem Thema stecken. "Wir alle werden daran gemessen, ob die junge Generation in Europa eine Perspektive bekommt", sagt sie. Ihr Kalkül: Deutschland soll in Zukunft nicht mehr nur als schmallippiger Sparmeister wahrgenommen werden, sondern als gütiger Ausbildungsleiter. Dank ihrer, versteht sich.
Im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit
Aber auch in Brüssel möchte sich niemand dem Verdacht aussetzen, er hätte den Ernst der Lage nicht erkannt. Seit Monaten mahnt Kommissionspräsident Barroso, Europa müsse die Jugendarbeitslosigkeit als "dringendes Problem" begreifen. Sechs Milliarden Euro sollen nun 2014 und 2015 in die "Beschäftigungsinitiative für junge Menschen" fließen. Außerdem werden 16 Milliarden Euro ungenutzte Mittel aus den Kohäsionsfonds für die Ausbildungsförderung umgeschichtet.
Beim EU-Gipfel vergangene Woche einigten sich die Mitgliedstaaten, schnell nationale Pläne für die Umsetzung der Jugendgarantie vorzulegen. Die soll schließlich sicherstellen, dass die unter 25-Jährigen nicht länger als vier Monate ohne Arbeit, Ausbildung oder Praktikum bleiben sollen. In Finnland und Österreich hätten sich solche Garantien bewährt, unterstreicht die Kommission gerne.
Wie es um die Jugend steht
5,6 Millionen Europäer zwischen 15 und 24 Jahren sind momentan arbeitslos.
551.000 Azubis haben im letzten Jahr in Deutschland ihre Lehre angetreten.
27 Milliarden Euro investiert die deutsche Wirtschaft jährlich in Ausbildung.
Doch auf ganz Europa ausgebreitet, birgt die Garantie die Gefahr, dass junge Menschen vor allem in nutzlosen Pseudo-Fortbildungen geparkt werden. "Die milliardenschweren EU-Programme sind kaum mehr als weiße Salbe", kritisiert der Arbeitsmarktexperte Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). "Weniger Jugendarbeitslosigkeit können sie nicht per Dekret verordnen."
Unternehmen in Südeuropa wollen nicht selbst investieren
Immerhin ist auch vielen Verantwortlichen in Brüssel bewusst, dass die Ursachen der Jugendarbeitslosigkeit vor allem direkt vor Ort bekämpft werden müssen. Die Kommission schrieb jüngst in einem Papier: "Die EU kann nicht die auf nationaler Ebene notwendigen Arbeiten leisten." Der Kommission fehlen, aller klingenden Rhetorik über eine engere Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Trotz, schlicht die Hebel, Mitgliedstaaten zu Reformen auf dem Arbeitsmarkt zu zwingen. Hinzu kommt eine besondere Schwierigkeit: In vielen Unternehmen, besonders in Südeuropa, herrscht gegenüber der Politik eine abwartende Bringhaltung vor – nach dem Motto: Liefert uns gefälligst die fertigen, passenden Fachkräfte frei Haus. Selbst investieren? Kaum vorstellbar. Der nötige Mentalitätswandel dürfte also Jahre in Anspruch nehmen.
Ökonomen wie Daniel Gros vom Brüsseler Thinktank Centre for European Policy Studies halten den alleinigen Fokus auf junge Arbeitslose ohnehin für falsch. "Europa hat ein makroökonomisches Problem, das auf mangelnder Nachfrage, gepaart mit einem rigiden Arbeitsmarkt, beruht, und kein spezifisches Problem der Jugendarbeitslosigkeit." Tatsächlich war in vielen der akuten Problemländer die Jugenderwerbslosenquote auch schon vor der Krise unangenehm hoch.
"Das Übel an der Wurzel packen"
Der Wirtschaftsweise Schmidt sieht noch tiefer liegende Probleme: "Die EU-Regierungschefs sollten nicht nur an den Symptomen der Wirtschaftskrise herumdoktern, sondern das Übel bei der Wurzel packen", fordert er. "Dazu muss dringend der Bankensektor auf Vordermann gebracht werden." Die Milliarden der Europäischen Investitionsbank, mit denen kleine und mittelständische Unternehmen in den Krisenländern bald versorgt werden sollen, könnten kein öffentlicher Ersatz für eine private Aufgabe sein.
Experten-Lob ernten deshalb eher die kleinen, unscheinbaren Maßnahmen – etwa die geplanten EU-Hilfen, mit denen zukünftig Sprachkurs- und Reisekosten übernommen werden sollen, wenn Interessierte außerhalb des Heimatlandes eine Lehre beginnen wollen. "Die Lösung der Krise kann nur so gelingen: die Ausbildung samt ihrer Praxisrelevanz verbessern und die grenzüberschreitende Mobilität fördern", sagt Klaus Zimmermann, Direktor des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit. Sorgen vor dem Exodus der Leistungsfähigsten aus den Krisenländern seien "unberechtigt", meint auch Karl Brenke vom DIW. "Heute besteigt niemand mehr ein Schiff und kehrt nie wieder. Was wir erleben werden, ist kein Brain Drain, sondern eher eine Zirkulation der klugen Köpfe."
Extreme Spezialisierung
Die umtriebige Botschafterin von der Leyen wirbt längst offensiv für einen mehrjährigen Qualifizierungsabstecher ins gelobte Deutschland. Doch die Bewunderung, die dem dualen Modell derzeit allenthalben entgegenschlägt, kann nicht verdecken, dass auch im hiesigen System nicht alles glänzt, was schwarz-rot-gold ist.
Die Schwächen offenbaren sich vor allem dann, wenn man die Berufsschule mit den Ländern vergleicht, in denen es ähnliche Institutionen gibt, etwa in Österreich, Dänemark und der Schweiz. Im Kontrast zu den anderen zeichnet sich das deutsche System durch seine extreme Spezialisierung aus. Während in Dänemark rund 150 unterschiedliche Berufsbilder existieren, sind es in Österreich und der Schweiz rund 250, in Deutschland sogar gut 350. Entsprechend ist auch die Zahl von Berufen, die mit einer Ausbildung ausgeübt werden können, in Deutschland deutlich kleiner als in den anderen drei Ländern.
Wissenschaftler raten zu österreichischem Modell
Die Folgen dieser hohen Differenzierung zeigt eine Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB). Die Studie analysierte, wie hoch das Risiko für Auszubildende ist, später arbeitslos zu werden oder nur eine befristete Anstellung zu finden. Am schlechtesten schneidet dabei Dänemark ab, am besten Österreich und die Schweiz. In Deutschland ist vor allem das Risiko, nur einen befristeten oder unterbezahlten Job zu finden, deutlich höher.
Viele Wissenschaftler raten deshalb dazu, sich stärker am österreichischen Modell zu orientieren. Auch hier sind die Betriebe zwar intensiv in die Ausbildung eingebunden, die Ausbildungsinhalte haben aber einen stärker theoretischen Hintergrund als in Deutschland. Das macht es den Auszubildenden später leichter, bei Bedarf in einem anderen Feld als dem ursprünglich erlernten tätig zu werden. Die Gefahr, in der Nische festzuhängen, sinkt.
Ein zweites Manko des deutschen Modells könnte dadurch ebenfalls gelindert werden. Denn hierzulande ist die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung nach wie vor niedriger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das mag zwar im Interesse der ausbildenden Betriebe sein, die dadurch seltener Gefahr laufen, dass sich ihre angestammten Kräfte irgendwann an die Universität verabschieden. Es bremst jedoch die Aufstiegschancen. In Österreich wird diese Durchlässigkeit dadurch erhöht, dass Berufsschüler die Möglichkeit haben, neben dem beruflichen auch einen schulischen Abschluss zu erwerben – und damit den Zugang zur Hochschule. So gelingt es, die akademischen Chancen von Auszubildenden zu erhöhen, ohne zugleich die berufliche Ausbildung zu entwerten.
Hilfsangebote für schwer vermittelbare Jugendliche
Es lohnt sich also, über den nationalen Tellerrand zu blicken – auch für vermeintliche Musterschüler wie die Bundesrepublik. Die 27 Arbeitsminister setzen deshalb bei ihrem Treffen besondere Hoffnungen in ein Gremium, das hierfür eine überaus treffende Abkürzung trägt: HOPES – die "Heads of Public Employment Services". Die Chefs der nationalen Arbeitsagenturen sollen, geht es nach der Politik, ihren bisher ziemlich losen Verbund zu einer festen Einrichtung schmieden. Dort könnten sich die obersten Arbeitsvermittler gegenseitig die besten Strategien gegen Joblosigkeit abschauen.
Beim anstehenden Treffen mit den Kollegen aus ganz Europa wollen sich die Vertreter der deutschen Bundesagentur für Arbeit (BA) gleichwohl mit eigenen Ratschlägen erst einmal zurückhalten. "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen? Mit dieser Attitüde würden wir sicher nichts erreichen", sagt ein hoher BA-Vertreter.
Eine deutsche Spezialität dürfte dennoch für Aufmerksamkeit sorgen: die umfangreichen Hilfsangebote für Problemfälle. Länder, Kommunen und Bundesagentur haben ein Übergangssystem für schwer vermittelbare Jugendliche geschaffen, in dem jährlich zwischen 250 000 und 270 000 Arbeitslose geparkt werden. Das gilt zwar nicht überall als Ausbund an Effizienz, aber es sorgt immerhin dafür, dass kaum ein Jugendlicher komplett durchs Raster fällt.
Hohe Investitionen in Jugendliche
Die BA fördert auf zwei Wegen: Zum einen gibt es die sogenannte "Einstiegsqualifizierung" für Personen, die wegen persönlicher Defizite als noch nicht ausbildungsreif gelten. Sie können ein bis zu einem Jahr dauerndes Praktikum in einem Unternehmen absolvieren; die BA zahlt ihnen dafür ein Taschengeld von rund 300 Euro. In diesem Jahr nutzen etwa 12 500 Jugendliche das mit einem Etat von insgesamt 50 Millionen Euro ausgestattete Programm. "Rund 70 Prozent der Teilnehmer bekommen anschließend einen Ausbildungsplatz", sagt BA-Vorstandsmitglied Raimund Becker.
Noch umfangreicher ist ein anderes Programm: 360 Millionen Euro gibt die Nürnberger Agentur für berufsvorbereitende Bildung aus. Diese Maßnahmen dauern sechs bis neun Monate und sollen berufliche Grundfertigkeiten vermitteln; in diesem Jahr werden allein knapp 55 000 Jugendliche gefördert. "Oft geht es auch schlicht um Sozialkompetenz: Manche der jungen Leute haben es zum Beispiel nicht gelernt, pünktlich zu sein", so Becker.
Die Vorbereitungen für den EU-Gipfel hatten auch sonst schon ihr Gutes. Sie förderten nämlich den einen oder anderen eklatanten Mangel zutage. So hat etwa die zersplitterte italienische Arbeitsagentur offenbar kaum einen belastbaren Überblick über alle Jobsuchenden ihres Landes. "Wie", heißt es von deutscher Seite, "sollen wir jemals die Jugendgarantie der Kommission umsetzen, wenn einige Arbeitsverwaltungen nicht mal alle ihre Kunden kennen, die angesprochen werden sollen?"