Arm im Alter Warum das Rentenniveau nicht weiter fallen darf

Ohne eine Stabilisierung des Rentenniveaus droht Altersarmut bis in die Mittelschicht, warnt ein Institut der Hans-Böckler-Stiftung. Einige Parteien nutzen die Ergebnisse einer Studie, um Wahlkampf zu machen.

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Von wegen Silver-Ager. Viele Rentner können sich schon heute den Urlaub in fernen Ländern nicht leisten. Ihre Zahl könnte in Zukunft steigen. Quelle: dpa

Berlin Eine Stabilisierung des Rentenniveaus ist zwar kein Mittel zur Bekämpfung bereits bestehender Altersarmut. Sie kann aber verhindern, dass in Zukunft immer mehr Menschen auch im Bereich mittlerer Einkommen in Gefahr geraten, im Alter arm zu sein. Das ist das zentrale Ergebnis einer neuen Studie des Wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

SPD und Grüne fordern eine Stabilisierung des Niveaus, jetzt ergreifen die Gewerkschaften offen Partei für die Rentenprogramme der linken Parteien und gegen die Union: „Wir brauchen einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Die Rente muss auf dem jetzigen Niveau von 48 Prozent stabilisiert und schrittweise auf 50 Prozent angehoben werden“, sagte der Verdi Vorsitzende Frank Bsirske am Freitag Abend auf einer Demonstration in Kassel. Zudem dürfe es nicht sein, dass künftig Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – obwohl sie jahrzehntelang gearbeitet und Beiträge gezahlt haben – am Ende nicht mit ihrer Rente über die Runden kämen.

Die Gewerkschaften haben diesen Zusammenhang auf die auch von der SPD im Wahlkampf eingesetzt Formel „Gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente“ gebracht. Passend dazu hat das Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans Böckler Stiftung in einer neuen Studie den Zusammenhang zwischen Lohn und Rente heute und in Zukunft beleuchtet. Das WSI berechnete, wie viel Geld jemand verdienen, der neben der gesetzlichen Rente kein weiteres Einkommen hat, damit er bei einem weiteren Absinken des Rentenniveaus im Alter nicht in der Armut landet.

Die statistische Größe des Rentenniveaus misst, wie viel Prozent seines letzten Einkommens vor Steuern ein Arbeitnehmer an Rente erhält, der 45 Jahre lang gearbeitet und immer vom jeweiligen Durchschnittseinkommen Rentenbeiträge gezahlt hat. Im wirklichen Leben erfüllt kaum jemand diese Bedingungen. So erreichen vor allem Frauen in der Regel 45 Arbeitsjahre nicht. Männer mittlerweile aber auch immer weniger. Gleichwohl gibt es bislang keine bessere Messzahl, um wiederzugeben, wie sich in der Vergangenheit die lohnbezogene Rente entwickelt hat und wie sie sich in Zukunft entwickeln wird.

Seit 2001 ist das Rentenniveau bereits von 53 auf 48 Prozent gesunken – also um etwa acht Prozent. Bleibt es bei der geltenden Rentenformel, fällt es nach einer Prognose des Bundesarbeitsministeriums bis 2045 auf 41,7 Prozent. Das bedeutet gegenüber 2001 einen Rückgang um satte 21 Prozent.


Welcher Stundenlohn vor Altersarmut schützt

Die viel muss einer heute also mindestens wie lange verdienen, damit er im Alter nicht altersarm wird? Das WSI beantwortet diese Frage für zwei gebräuchliche Armutsschwellen. Als von Armut bedroht gilt jemand, der weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns zur Verfügung hat. Das sind aktuell 942 Euro im Monat. Sozialleistungen in Form der Grundsicherung im Alter erhält er aber erst, wenn er unter die Grundsicherungsschwelle von aktuell 747 Euro liegt.

Um im Rentenalter über über der Armutsgefährdungsschwelle zu liegen, müssten Arbeitnehmer mit einer 38-Stunden-Woche beim aktuellen Rentenniveau durchschnittlich einen Stundenlohn von 18,51 Euro verdienen, wenn sie 35 Jahre arbeiten. Bei einem Rentenniveau von 41,7 Prozent würde sich der erforderliche Stundenlohn auf 21,18 Euro erhöhen. Wer 45 Jahre arbeitet, müsste seinen Stundenlohn immer noch von 15,40 Euro auf 16,47 Euro erhöhen.

Um im Alter über der Grundsicherung liegen, benötigen Arbeitnehmer mit einer Lebensarbeitszeit von 35 Jahren aktuell einen Stundenlohn von 14,68 Euro. Bei einem Rentenniveau von 41,7 Prozent wären es aber 16,79 Euro. Bei 45 Berufsjahren wären es noch immer 13,06 Euro statt 11,42 Euro.

Wer heute nur einen Mindestlohn verdient, erreicht wird also schon beim aktuellen Rentenniveau im Alter auf Grundsicherung angewiesen sein. Unter der Armutsgefährdungsschwelle landen laut WSI auch Pflegekräfte, die derzeit den Branchenmindestlohn für Westdeutschland von 1556 Euro im Monat erreichen. Nicht viel besser ergeht es einem  Facharbeiter mit dem Mindestlohn, der für das Bauhauptgewerbe gilt von 2350 Euro im Monat. Dagegen liegt eine Pflegekraft die nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes bezahlt wird und deshalb auf 3380 Euro im Monat kommt mit verfügbaren Monatsrenten von über 1000 Euro nach 35 und über 1300 Euro heute noch komfortabel oberhalb der Armutsschwelle im Rentenalter.

Gälte aber bereits heute das Rentenniveau des Jahres 2045, käme diese Pflegekraft nur noch bei 45 Dienstjahren mit über 1100 Euro auf eine Rente über der Armutsschwelle. Doch so lange hält kaum eine Pflegekraft durch. Trotz gutem Tariflohn droht Pflegekräften damit Armut im Alter, wenn sie sich allein auf die gesetzliche Rente verlassen.

Die Schlussfolgerung aus diesen Daten kann für WSI-Forscher Florian Blank nur heißen: „Eine Stabilisierung oder Anhebung des Rentenniveaus ist dringend geboten, um für alle Einkommensgruppen die Lohnersatzfunktion der Renten und damit die Legitimität der Rentenversicherung sicherzustellen“. Beides sei akut gefährdet, wenn langjähriger Beitragszahlung keine gesetzliche Rente deutlich über Grundsicherungsniveau oder Armutsgrenze gegenübersteht. Das WSI begründet seine Aussage auch damit, dass der Plan der Politik aus dem Jahr 2001 aufgegangen sei, das seither sinkende Rentenniveau durch von den Arbeitnehmern finanzierte ergänzende private Vorsorge auszugleichen. Die Riesterrente habe die in sie gesetzten  Erwartungen nicht erfüllt urteilt das WSI.


Das sind die Vorwürfe an die CDU

Grünen-Fraktionsvorsitzende Kathrin Göring-Eckardt wirft der Union vor, im aktuellen Wahlkampf dieses Problem systematisch zu ignorieren. „Beim Thema Renten verkauft die Union den Bürgern immer noch politische Zuckerwatte und ignoriert in verantwortungsloser Weise die Schieflage und Fehlentwicklungen im deutschen Rentensystem, die sie maßgeblich mitverantwortet.“ Dabei belege die WSI-Studie eindeutig, dass selbst Durchschnittsverdiener und vor allem Frauen, die für Kinder und Familie eine Auszeit vom Beruf nehmen, Gefahr laufen, in der Altersarmut zu landen. Das Gegenkonzept der Grünen heiße Umwandlung der Rentenversicherung in eine Bürgerversicherung, die Stabilisierung des Rentenniveaus und eine Garantierente für Bezieher unterer Einkommen.

SPD-Chef SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wirft Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Versagen in der Rentenpolitik vor. Ihre Aussage, bei der Rente gebe es keinen Handlungsbedarf, sei eine „Kampfansage an eine ganze Generation“, sagte Schulz bei einem Wahlkampfauftritt im niedersächsischen Göttingen. Merkels Verweigerungshaltung werde dazu führen, dass die Renten sinken und die Beiträge steigen. Das sei „Altersarmut auf Programm“, sagte Schulz. Einziges Konzept der CDU sei es, das Rentenalter auf 70 Jahre anheben zu wollen. Die Würde im Alter müsse zur zentralen Staatsaufgabe in Deutschland werden. Die Bürger hätten am 24. September die Wahl: „Zwischen einer Kanzlerin, die jede Debatte um die Zukunft dieses Landes verweigert, geht uns ja gut, brauchen nix zu tun, oder jemanden, der ihnen sagt, was er will.“ 

Massiven Rückenwind bekommt der SPD-Chef von der Rentenkampagne der Gewerkschaften, die derzeit bundesweit mit Demonstrationen und Veranstaltungen drohende Altersarmut zum Thema macht. „Es geht vor allem um eine starke gesetzliche Rente, bei der die Leistungen stimmen. Wegducken oder Aussitzen und weiter so sind keine politischen Optionen“, griff DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach bei einer Demonstration in Kassel am Freitag Abend die Union an. Diese sieht Handlungsbedarf in der Rentenpolitik erst nach 2030 und will darüber nach der Wahl eine Rentenkommission entscheiden lassen.

„Um das Vertrauen der jungen Generation in die Rente muss jetzt geworben werden“, hielt Buntenbach dagegen. „Sie muss sicher sein, für ihre Alterssicherung nicht zum Roulette-Spielen auf den Kapitalmarkt geschickt zu werden“, kritisierte sie auch die ergänzende Vorsorge durch Riesterverträge. „Auch bei der Rendite ist die gesetzliche Rente besser als jede private Versicherung.“ Buntenbach ist sicher, dass ein höheres Rentenniveau finanzierbar ist. Wie die SPD fordert sie dafür auch Steuermittel einzusetzen, statt gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie die Mütterrente oder die Rentenangleichung Ost aus Beitragsmitteln zu bezahlen.


Wodurch die Messung verzerrt wird

Dagegen weist das Deutsche Institut für Altersvorsorge (DIA) in einer aktuellen Studie auf einen anderen jenseits von Rente und Riester-Vorsorge liegenden Aspekt hin: Die Rolle, die möglicherweise während des Erwerbslebens aufgebautes Vermögen beim Ausgleich eines sinkenden Rentenniveau spielen könnte. „Die klassische Armutsmessung konzentriert sich auf die schiere Einkommensarmut. Unberücksichtigt bleibt dabei Vermögen. Das dürfte im Allgemeinen keine größeren Verzerrungen verursachen, da typischerweise zu Recht unterstellt wird, dass Arme auch über kein nennenswertes Vermögen verfügen“, beschreibt Studienautor Reiner Braun die Situation.

Betrachte man jedoch speziell die Altersarmut, gelte diese Annahme nicht mehr, denn Vermögen werden im Laufe des Lebens akkumuliert. Im Ergebnis hätten Senioren überproportional hohe Vermögen.

Laut DIA sinkt das Armutsrisiko aller Personen in Deutschland nur um rund einen Punkt von 16,8 auf 15,6 Prozent, wenn man das Geldvermögen aller Bürger über die Restlebenszeit in ein laufendes Einkommen umrechnet. Das Risiko sinkt um einen weiteren Punkt auf 14,8 Prozent, wenn zusätzlich das Immobilienvermögen berücksichtigt wird. Konzentriert man die Betrachtung auf Menschen im Rentenalter, ergebe sich ein ganz anderes Bild. Hier sinke das Armutsrisiko bei Berücksichtigung des Geldvermögens um immerhin vier Punkte von 18,5 Prozent auf 14,9 Prozent und um einen weiteren Punkt bei Verrentung der Immobilien. Schließt man das Vermögen in die Betrachtung mit ein, gelten also deutlich weniger ältere Menschen als arm. Die meisten Menschen versilbern allerdings ihre Immobilie nicht, wenn sie in Rente gehen. Sie nutzen vielmehr nur den geldwerten Vorteil den mietfreien Wohnens. Der könnte sich, so DIA-Sprecher Klaus Morgenstern aber sehr schnell relativieren. Denn auch die Immobilie komme in die Jahre, so dass Kosten für Reparaturen und Renovierung zumindest einen Teil der Mietersparnis „aufessen“ könnten. Das Institut macht sich daher dafür stark auch angesichts knapper werdenden Wohnraums, nach Wegen zu suchen, wie Menschen im Rentenalter ihre Immobilie in eine Zusatzrente umwandeln können.

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