Atomkraftwerke Die teuerste Baustelle des Jahrhunderts

Der Abriss der 19 deutschen Atomkraftwerke hat begonnen. 25 Milliarden Euro sollen dafür fließen – und eine ganze Branche von Dienstleistern reibt sich die Hände. Ein Besuch im ehemaligen Kraftwerk Stade.

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Quelle: Arne Weychardt für WirtschaftsWoche

Ganz zum Schluss, nach dem dann 20 Jahre dauernden Auftrag seines Lebens, wird Michael Klein noch ein Loch stopfen müssen. So wie jeder Mieter die Tür zuzieht, wenn er seine Wohnung für immer verlässt. Nur dass Kleins Auszug eine Milliarde Euro gekostet haben wird. Und er keine Mietwohnung verlässt, sondern das größte Malheur der deutschen Industriegeschichte abwickeln muss.

Klein, Anfang 60, Bürstenhaarschnitt, leitet das Kernkraftwerk Stade, und weil das an der Elbe liegt und die Elbe zum Überlaufen neigt, ist Klein Deichpflichtiger im Sinne des Niedersächsischen Deichgesetzes. In diesem heißt es: „Die Eigentümer aller im Schutz der Deiche gelegenen Grundstücke sind zur gemeinschaftlichen Deicherhaltung verpflichtet.“ Egal, ob der Besitzer auf seiner Scholle Schafe grasen lässt, Friesentee lagert oder nukleare Energie erzeugt, an der Deichpflege und -sicherung müssen sie sich alle beteiligen. Und weil Kleins Vorgänger einst, vor gut vierzig Jahren, ein Loch gebuddelt haben in ebendiesen Deich, um ihr Kraftwerk mit Kühlwasser zu versorgen, muss Klein da nochmal ran, ganz zum Schluss.

In diesen Wochen beginnt das teuerste deutsche Bauprojekt im 21. Jahrhundert: der Abriss aller 19 Atomkraftwerke. Im Januar trudelte im Kraftwerk Isar I die Genehmigung dafür ein, vergangene Woche begann der Abbau in Neckarwestheim. Die anderen Kraftwerke folgen nun Schritt für Schritt. 25 Milliarden soll der Abriss kosten, so viel Geld haben die Atomkonzerne für diesen Zweck zurückgelegt. Dieser Preis hat aber noch eine andere Seite: Die 25 Milliarden Euro, die die Stromkonzerne ausgeben, werden an anderer Stelle auch wieder eingenommen. Und so ist ein ganzes Spektrum nutznießender Dienstleister entstanden, die in den nächsten Jahrzehnten auf dem Abbau der deutschen Atomkraft ihre ganz eigene Erfolgsgeschichte aufbauen werden.

Wer profitiert, warum es diese Milliarden braucht und ob sie am Ende reichen, das lässt sich schon jetzt erahnen, wenn man in die Zukunft schaut. Das geht in Stade, Niedersachsen. Das dortige Atomkraftwerk, Baujahr 1972, war das erste, das nach dem Beschluss zum Ausstieg vom Netz ging. Es ist deshalb auch das erste Kraftwerk des in Deutschland gebräuchlichen Typs, das nun abgerissen wird. Die bereits abgebauten Kraftwerke waren entweder nie in Betrieb gegangen, kleinere Forschungsreaktoren oder DDR-Meiler. Stade ist die Blaupause. Gelingt der Abriss hier, gelingt er auch an den anderen Standorten.

Welche deutschen Atomkraftwerke demnächst vom Netz gehen

Eine Milliarde Euro pro Kraftwerk

Seit 2003 wird das Atomkraftwerk Stade schon zurückgebaut, mehrere Hundert Millionen Euro wurden bereits investiert, und doch muss man auf den ersten Blick sagen: sieht immer noch aus wie damals. Der Kühlturm, die Bürogebäude, das Kraftwerksgebäude selbst: alles noch da. Nur das Umspannwerk zeugt davon, dass hier seit Längerem keine Energie mehr produziert wird. Außer einer einzigen Versorgungsleitung gibt es keine Verbindung mehr zum Kraftwerksblock. Klein sagt: „Der größte Teil der Arbeiten liegt eigentlich schon hinter uns.“ Eigentlich sollte der gesamte Abriss ja auch schon vor zwei Jahren abgeschlossen sein. So eigentlich halt, wie die Atomkraft mal eine risikolose Form der Energiegewinnung war.

An einem Modell, das sich Klein im 3-D-Drucker selbst zusammengebaut hat, erklärt er, wie so ein Abbau abläuft. „Wir arbeiten uns von innen nach außen vor“, sagt Klein. Also, Brennstäbe raus, Abklingbecken leeren, den Rest übernimmt die Abrissbirne. Warum soll das eine Milliarde Euro kosten? „Ein Atomkraftwerk hat mit einer gewöhnlichen Baustelle leider wenig zu tun“, sagt Klein. Also, Dosimeter zur Strahlenmessung anlegen, bitte, und ab ins Innere.

Höhlenexpedition im Betonkoloss

Schon beim Betreten des Bauwerks wird klar, was Klein meint. Auch zwölf Jahre nachdem die letzten Brennstäbe das Gebäude verlassen haben, steht vor dem Betreten des Gebäudes die gleiche Sicherheitsprozedur wie im laufenden Betrieb. Wer auf die Baustelle will, muss einen weißen Anzug überziehen, Helm und Sicherheitsschuhe. Sodann geht es in die Schleuse ins Gebäude, alle Gegenstände werden separat gescannt. Betriebsleiter Klein selbst bleibt diesmal in der Schleuse hängen. Wie die blecherne Frauenstimme befiehlt, stellt er die Beine erst auseinander auf die markierte Position, breitet die Hände aus, schiebt sie in die vorgesehenen Metallschlitze und drückt sie nach vorne. Der Kopf wird mit einer Metallstütze arretiert. Er wartet, nach zehn Sekunden piepst das Gerät, doch es ist das falsche Signal. Also wieder raus aus der Schleuse, nächster Versuch. Als die Schleuse ihn endlich gewähren lässt, sind fünf Minuten vergangen. In der Hochphase des Abbruchs haben hier gut 500 Menschen gearbeitet. Jeder von ihnen musste jeden Tag durch diese Prozedur.

Mal Höhle, mal Hölle: Im Kern des Kraftwerks ist es so eng, dass kaum zwei Menschen nebeneinander passen – was den Abbau nicht gerade vereinfacht. Quelle: Arne Weychardt für WirtschftsWoche

Der gesamte Bau wird während des Abrisses so behandelt, als wäre das Kraftwerk noch in Betrieb und damit hochgefährlich. Das zeigt sich zum Beispiel an provisorischen Lufttunneln, an denen vorbei sich Klein durch enge Gänge quetscht, an deren Ende er das Innerste des Kraftwerks verspricht. „Wir nennen das den gerichteten Luftstrom“, brüllt Klein gegen diesen an, während zwei dröhnende Generatoren direkt daneben ihn aufrechterhalten. Der Luftstrom sorgt dafür, dass im Atomkraftwerk nichts unkontrolliert nach außen dringt. Über mehrere Einlässe kommt die Frischluft ins Gebäude, nach draußen geht es nur durch den großen Kamin. Der Luftstrom offenbart die einzigartige Komplexität des Rückbaus eines Atomkraftwerks: Es soll zwar abgebaut werden, doch bis zum letzten Tag muss all die Infrastruktur erhalten bleiben, die es unter Volllast gab.

Für die ehemaligen Betreiber E.On, RWE, Vattenfall und EnBW steht viel auf dem Spiel, um nicht zu sagen: alles, was von ihnen noch übrig ist. Von den Kosten für die Endlagerung haben sie sich freikaufen können, weitere 23 Milliarden Euro werden sie dafür, über knapp zwei Jahrzehnte gestreckt, an den Bund überweisen. Der Rückbau aber liegt allein in ihrer Verantwortung. Wenn es ihnen gelingt, den Abriss effizienter zu organisieren als angenommen, könnten sie das eingesparte Geld anderweitig ausgeben. Sollten sie die Komplexität der Aufgabe aber unterschätzen, werden sie alles zusätzliche Geld selbst auftreiben müssen.

Begraben unter tausenden Tonnen Stahl
Kraftwerksruine von Tschernobyl im Mai 1986 Quelle: dpa
Luftaufnahme Tschernobyl 1986 Quelle: AP
Hotel in der Geisterstadt Prypjat Quelle: dpa
Kontaminierter Schrott Quelle: dpa/dpaweb
 Betonsarkophag in Tschernobyl Quelle: AP
Zerstörter Bedienpulte Quelle: dapd
Sarkophag im Jahr 2006 Quelle: dpa

Gründlich oder umständlich?

Als Kraftwerksleiter Klein ins Innere des Gebäudes führt, wird aus der Betriebsbesichtigung eine Höhlenexpedition. Mal fordert er dazu auf, den Kopf einzuziehen, dann warnt er vor Hindernissen am Boden oder in der Wand. „Wir haben leider extrem wenig Platz hier drinnen“, sagt Klein. Das klingt ein bisschen albern, wenn man den monströsen Betonkoloss von außen sieht.

Um es nachzuvollziehen, muss man sich kurz die Bauweise eines Atommeilers vor Augen führen. In der Mitte des nahezu quadratischen Baus befindet sich das Reaktorbecken, in dem die atomare Reaktion stattfindet. Daneben gibt es das Abklingbecken, in dem die Brennstäbe lagern, und die Generatoren, die aus der frei werdenden Energie Strom machen. Verbunden ist alles über einen geschlossenen Wasserkreislauf. Geschützt ist dieser gesamte Kern der Anlage durch eine Kugel aus Stahl, der sogenannten Kalotte, die wiederum von der Umfassung aus Stahlbeton umgeben ist. Um nun das Kraftwerk auseinanderzubauen, müssen alle Teile, die potenziell radioaktiv belastet sind, aus der Kalotte entfernt, in Einzelteile zerlegt und auf ihre Strahlung überprüft werden. Nur dürfen sie dabei den gesicherten Bereich noch nicht verlassen haben. Für die Bauarbeiten bedeutet das: Alles muss auf dem schmalen Platz zwischen der Kalotte und Gebäudewand passieren.

Atommülltrennung

Eine Unternehmensberatung hat vor einiger Zeit einmal vorgerechnet, dass in den USA so ein Kernkraftwerk deutlich billiger beseitigt wird: Dort wird der gesamte Reaktorkern per Kran aus der Betonummantelung gezogen und komplett in einem Atomzwischenlager abgelegt: Nach einigen Jahren Abklingzeit können die Behälter dann zu Kleinschrott zerlegt werden. In Deutschland hat man sich für die gründlichere Variante entschieden.

So viel Zeit muss sein: Allein die Sicherheitsprozedur dauert pro Mann fünf Minuten. Quelle: Arne Weychardt für WirtschftsWoche

Aber Klein wäre kein deutscher Ingenieur, wenn er sich nicht auch dafür eine Lösung überlegt hätte. „Wir nennen es das Muldensystem“, sagt er und deutet auf drei große Bottiche, die nach Mülltrennung aussehen. Und so ist es auch: In den eisernen Gitterboxen lagern die rohen Abfälle, die direkt aus der Kalotte stammen, wenn sie zerlegt werden, wandern sie in rote Säcke, sobald sie dekontaminiert sind, geht es in die grünen. Und erst dann endlich raus aus dem Gebäude. „So haben wir viele kleine Sammelstellen und sparen uns den einen großen Zerlegeplatz“, sagt Klein, der in nur ein paar Schritten zu seiner wohl wichtigsten Entdeckung in den vergangenen Jahren kommt – nur war das leider keine positive: Wasser, das nur aus dem Reaktor selbst stammen konnte. Was daraus folgt, offenbart den kompliziertesten Teil der komplizierten Aufgabe Rückbau: Insgesamt, so ermittelten Kleins Leute, waren nur 112 Liter Wasser entwichen. Und das vermutlich auch bereits 1972 beim Bau der Anlage.

Wie im Ausland die Atommüll-Kosten gestemmt werden

Doch beides ist unerheblich: „Wir müssen deshalb nicht nur das Innenleben, sondern auch die gesamte Kalotte nach den Regeln des Atomgesetzes demontieren und entsorgen“, sagt Klein und öffnet endlich den Weg ins Innerste des Kraftwerks.

Wo einst ein offener Raum war, ist derzeit ein verwinkeltes Netz von Baugerüsten, das sich vieleckig an die Kalotte schmiegt. Von dem Gerüst aus werden sich nun bald Arbeiter daranmachen, die Kalotte zu zersägen. Kein potenziell radioaktives Teil darf für die Entsorgung schwerer als zwei Tonnen sein. Um das Stück aber überhaupt in Teile zersägen zu können, brauchen Kleins Mannen eine spezielle Apparatur aus Diamantseil, die nur ein einziges Unternehmen weltweit herstellt. Die letzten Monate hat man hier damit verbracht, sich auf den Einsatz vorzubereiten. Die kirchturmhohe Kalotte wurde Meter für Meter in quadratische Abschnitte unterteilt, die jeweils nummeriert wurden, sodass auch nach dem Abbruch jedes Teils exakt seinem Platz zuzuordnen ist. Alle 100.000 Dübel in der Wand der Kalotte mussten einzeln herausgesägt werden, um sie separat dekontaminieren und deponieren zu können. Und so werden die 112 Liter Wasser den Abbau um mindestens 500 Millionen Euro verteuern und um acht Jahre verzögern.

Immer neue Verzögerungen

„Niemand hat Erfahrungen mit so einer Aufgabe, wie soll man da die Kosten kalkulieren?“, sagt Klein. Und so hat es seiner Mannschaft allein eine Verzögerung von mehreren Monaten beschert, überhaupt eine Firma aufzutreiben, die den Rundkran installiert, mit dem die Einzelteile transportiert werden könnten. Das alles offenbart, wie vage die Kostenprognosen für den Rückbau aller deutschen Kernkraftwerke sind. Die Schätzungen entstehen, bevor man sich über den Zustand der Gebäude wirklich im Klaren sein kann.

Des Reaktors Kern: Detail für Detail wird das Kraftwerk zurückgebaut. Quelle: Arne Weychardt für WirtschftsWoche

Immerhin für den Kraftwerksleiter ist das Ende absehbar. Denn für ihn endet mit dem Abriss in ein paar Jahren auch der Zyklus eines Arbeitslebens. 1975 hat Klein begonnen, als Ingenieur im Atomreaktor Rheinsberg in Brandenburg. Nach dem Ende der DDR ging er nach Stade, seitdem ist er hier. Klein hat die Zeiten erlebt, als die Atomkraft eine innovative Technologie war, wie sie dann zur Geldmaschine wurde und schließlich in Verruf geriet. Und so wrackt er jetzt nicht nur einen Betonkoloss ab, sondern irgendwie auch seinen Lebensinhalt.

Zwar gibt es aufmunternde Rechnungen von Beratern, die all jenen, die sich um den Abbau der deutschen Atomkraft verdient machen, eine glänzende Zukunft prophezeien. Laut McKinsey zum Beispiel stehen in den kommenden 15 Jahren weltweit 250 nukleare Kraftwerksblöcke an 142 Standorten weltweit zum Abriss, jedes im Volumen von fast einer Milliarde Euro. Anbietern, die in Deutschland Erfahrung in diesem seltenen Gewerbe gesammelt hätten, stehe dieser einmalige Markt nahezu konkurrenzlos offen. Doch das ist für die Arbeiter in Stade nur ein schwacher Trost.

„Das ist nicht so leicht für die Menschen hier, auch für mich nicht“, sagt Klein, als er nach dem Rundgang noch in die Kantine einlädt. Hier wäre immer noch Platz für alle 370 Mitarbeiter, die während der Betriebsjahre im Kraftwerk arbeiteten. Auch die Informationsposter über die technischen Finessen von Atomkraftwerken, die historischen Fotos vom Bau des Kraftwerks, aus allem hier spricht der Stolz, Teil der modernen Welt zu sein. Und zugleich spürt jeder, das nichts davon mehr wahr ist.

„Viele haben das nicht ausgehalten, haben sich in den Vorruhestand verabschiedet oder sich in die noch laufenden Betriebe verabschiedet“, erzählt Klein, auf dessen Overall noch das E.On-Logo prangt, dabei firmieren die Atomkraftwerke längst unter der Marke Preussen Elektra.

„Das Teil tut es ja noch“, sagt Klein. Doch woher sollen Mitarbeiter ihren Ansporn ziehen, wenn ihre Jahrhundertaufgabe noch nicht mal einen Satz neue Klamotten wert ist?

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