Auf dem Weg nach Istanbul Pragmatismus gegen Polterer – Merkels schwieriger Türkei-Trip

Vor ihrer fünften Türkei-Reise in sieben Monaten steht Kanzlerin Merkel unter Druck. In der Union wird gemurrt, Deutschland „bettele“ in der Flüchtlingskrise bei Erdogan. CSU-Chef Seehofer fordert einen „Aufschrei“.

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Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan wollen sich am Montag in Istanbul treffen. Quelle: AFP

Berlin/Istanbul Wenn sich Angela Merkel an diesem Montag mit Recep Tayyip Erdogan trifft, geht es um das wohl wichtigste außenpolitische Projekt ihrer bald elfjährigen Regierungszeit. Will der türkische Präsident den Flüchtlingspakt mit der EU tatsächlich platzen lassen, wie er es im Streit um die Visumfreiheit für die Bürger seines Landes indirekt angedroht hat? Oder sendet er Signale der Verhandlungsbereitschaft? Klar ist: Kommt die Kanzlerin mit leeren Händen zurück nach Berlin, dürfte die Kritik auch aus den eigenen Reihen an ihrem Flüchtlingskurs noch lauter werden.

Merkel weiß, dass so mancher sie ganz gerne scheitern sehen würde bei dem Versuch, die Flüchtlingskrise mit Hilfe Erdogans zu lösen. CSU-Chef Horst Seehofer hat schon immer über das Abkommen gelästert, viele CDU-Abgeordnete sind wegen sinkender Umfragewerte schwer verunsichert. Selbst Wohlmeinende in der Union beschreiben drastisch, wie unpopulär Merkels Pendeldiplomatie – ihre Türkei-Reise ist die fünfte in sieben Monaten – im Parteivolk ist: Die Leute hätten den Eindruck, „wir werfen uns dort vor die Füße und betteln“, heißt es. „Jeder Besuch unterstreicht das.“

Direkt vor Merkels Abflug am Sonntag gibt Seehofer der Kanzlerin noch einen vergifteten Ratschlag mit auf den Weg: Im ARD-„Bericht aus Berlin“ warnt er, Deutschland dürfe sich nicht „erpressbar“ von Erdogan machen. „Besorgt sein“ über die politische Lage in der Türkei reiche nicht mehr aus. Das sei eine Entwicklung, „bei der die ganze Welt aufschreien müsste“.

Auch der Koalitionspartner SPD wittert eine Chance, sich von der Kanzlerin abzusetzen. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann verlangt von ihr, sie solle ein deutliches Zeichen setzen und Oppositionsvertreter treffen. Mit Erdogan müsse sie „Klartext reden“, sagte er der „Bild am Sonntag“. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter schlug in dem Blatt in eine ähnliche Kerbe: „Merkel darf vor Erdogan nicht einknicken, nur damit er ihr und Europa weiter die Flüchtlinge vom Hals hält.“

Wie sehr die Kanzlerin derartige Äußerungen ärgern, zeigt sie in einem Interview, das am Tag ihrer Abreise nach Istanbul in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erscheint: „Was mich irritiert, ist, dass ich manchmal fast so etwas wie eine Freude am Scheitern beobachte.“ Namen nennt sie nicht.

Merkel macht in dem Gespräch auch deutlich, wie sie mit Erdogan umgehen will, den auch manche in ihren eigenen Reihen für einen Despoten halten. Immer schriller waren dessen Töne in Richtung Deutschland und Europa in den vergangenen Wochen geworden. Merkel setzt dem ihren pragmatisch-ruhigen Ton entgegen.


Die Rolle der Kurden

„Es ist immer besser, wenn man miteinander spricht als übereinander“, sagt sie. Ihr gehe es nicht um psychologische Analysen, sie konzentriere sich vielmehr darauf, „genau zu beobachten, wie die Türkei mit ihren Zusagen umgeht. Bis jetzt setzt sie sie verlässlich um“. Merkel ist Anhängerin eines Denkens in Prozessen – „wenn Schwierigkeiten auftauchen, versuche ich sie zu überwinden oder andere Wege zu finden“. Man kennt das von ihrem Umgang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem manche eine oft testosteron-gesteuerte Verhandlungsführung unterstellen.

Ob die Taktik der Kanzlerin wirkt, ist offen. Denn seit Wochen läuft Erdogan besonders gegen eine Bedingung der EU für die Visumfreiheit Sturm: die Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetze. Die EU will erreichen, dass diese Regelungen nicht gegen politische Gegner und Journalisten missbraucht werden. So drohen Abgeordneten der pro-kurdischen HDP Verfahren nach diesen Gesetzen, nachdem ihre Immunität – wie von Erdogan gefordert – am Freitag aufgehoben wurde. Erdogan sieht hinter der Forderung aber ein ganz anderes Ziel: Er wirft der EU in emotionsgeladenen Reden vor, sie wolle den Kampf der Türkei gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK schwächen.

AKP-nahe Medien verbreiteten diese These gebetsmühlenartig im ganzen Land. Während der von Erdogan verdrängte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu den Kompromiss mit Brüssel und Merkel suchte, setzt Erdogan auf Konfrontation. „Wir gehen unseren Weg, geh Du Deinen Weg“, sagt er an die Adresse der EU. „Einige Dich, mit wem Du willst.“

In derselben Ansprache vom 12. Mai warf Erdogan der EU vor, die 72 Voraussetzungen für die Visumfreiheit erst nachträglich auf den Tisch gepackt zu haben. „Diese Sache mit Schengen und Visa. Diese Sache haben wir bereits erledigt“, sagte er. „Aber jetzt kommen sie mit 72 Kriterien an. Und jetzt haben sie auch noch den Terror dazu gepackt.“

Da mag Erdogan allerdings die Erinnerung trügen. Er selbst war als Ministerpräsident anwesend, als seine Regierung am 16. Dezember 2013 in Ankara ein Abkommen mit der EU unterzeichnete. Darin wurde der Türkei Visumliberalisierung in Aussicht gestellt, im Gegenzug für die Rücknahme von Flüchtlingen. Teil des Abkommens: Die 72 Bedingungen, darunter wortgleich der Punkt zu den Anti-Terror-Gesetzen. Erdogan sprach nach der Unterzeichnung von einem „Meilenstein“.

Heute ist Erdogan nicht mehr Regierungschef, sondern Staatspräsident – und vor allem damit beschäftigt, die Massen für die Einführung eines Präsidialsystems zu mobilisieren. Bei seinen Reden vermittelt er den Eindruck, als könne die Visumfreiheit nur um den Preis erkauft werden, der PKK das Feld zu räumen – ausgerechnet jetzt, wo sich der Kurdenkonflikt wieder zum Bürgerkrieg auswächst. Vor diese fragwürdige Wahl gestellt, ist die Meinung der meisten Türken klar: Dann verzichten sie lieber auf Visumfreiheit.

Merkel glaubt zwar an einen Unterschied zwischen den Wahlkampfreden und Erdogans Verhalten bei offiziellen Verhandlungen mit der EU. Sie setzt auf einen Interessenausgleich zwischen Türkei und EU. Doch einfacher sind die Gespräche mit Erdogan für sie am Wochenende nicht geworden. Pro Asyl wirft ihr vor, für das Flüchtlingsabkommen Menschenrechte geopfert zu haben.

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