Ausgabe in Aachen Jodtabletten gegen die Angst

Als Maßnahme gegen die Folgen eines möglichen AKW-Unfalls beginnt Aachen mit der Vergabe von Jodtabletten. Andere Städte sind schlechter vorbereitet. Aber auch in Aachen weiß man: Eigentlich müsste viel mehr geschehen.

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Die Angst vor einem Gau in dem Pannen-Kraftwerk reicht bis nach Deutschland. Quelle: dpa

Düsseldorf Die Angst, dass das Atomkraftwerk Tihange explodiert, ist groß. Bereits vergangenes Jahr hatte Belgien Jodtabletten zum Schutz an seine Bevölkerung ausgegeben. Nun legt auch Aachen nach. Ab ersten September können Bürger unter 45 Jahren Jodtabletten kostenlos in Apotheken abholen. Die Tabletten sollen die Menschen schützen, falls das mit Mängeln aufgefallene Werk in Tihange radioaktive Strahlen verbreitet. Tihange ist nur knapp 70 Kilometer entfernt. Eine von der Städteregion Aachen in Auftrag gegebene Studie zeigte im vergangenen Jahr, Aachen und die umliegenden Regionen könnten bei einem Gau unbewohnbar werden. Erst im Juni wurden neue Risse in den Hochdruckkesseln des Reaktors in Tihange festgestellt.

Schon länger wird diskutiert, ob der „Bröckelreaktor“ in Tihange sicher genug ist. Er wurde nicht wie geplant im Jahr 2015 vom Netz genommen, stattdessen wurde die Laufzeit um zehn Jahre verlängert. Die Aachener setzen sich schon lange für die Schließung des Werkes in Belgien ein. Zuletzt unterstützten der Kreisverband der Grünen und das regionale Aktionsbündnis gegen Atomenergie eine 90 Kilometer lange Menschenkette, die von Tihange bis nach Aachen gegen das Werk demonstrierte. Außerdem hat die Städteregion Aachen vor dem belgischen Staatsrat Klage gegen den Weiterbetrieb des Reaktorblocks 2 eingereicht.

Solange der Betrieb aber nicht aufgeben wird, wollen die Aachener für alles gewappnet sein. „Bei einer Katastrophenschutzübung haben wir bemerkt, dass Chaos ausbricht, wenn die Behörden die Tabletten verteilen“, so Rita Klösges, stellvertretende Leiterin des Presseamtes Aachen. Deshalb hätte das Land der Region erlaubt, die Tabletten vorsorglich zu verteilen. Bisher wurden die Tabletten bei der Kommune gelagert. Man wollte verhindern, dass Bürger das Jod vorsorglich nehmen. Nun können die Bürger der Städte-Region und der Kreise Düren, Euskirchen und Heinsberg die Bezugsscheine online beantragen. Bis zum 30. November geben die Apotheken die Tabletten kostenlos aus. Klösges empfiehlt den Bürgern, die Tabletten immer dabei zu haben. Zwar würden Jodtabletten auch in Schulen oder Kindergärten ausgegeben, falls es zu einem Reaktorunglück kommt. Allerdings könne man nicht sicher sein, wie schnell man diese bei verstopften Straßen erreiche.

Eine Nuklearwolke aus Tihange könnte schon in drei Stunden in Aachen sein. Je nach Windstärke wären auch die Regionen Köln, Düsseldorf und das Ruhrgebiet betroffen. Insgesamt 31,7 Millionen Tabletten wurden an die Kreise und kreisfreien Städte verteilt. Damit das Jod aber wirkt, muss die Einnahme mindestens drei Stunden vor dem Einatmen der radioaktiven Partikel erfolgen. Ist es realistisch, dass die Tabletten im Katastrophenfall schnell genug an die Bevölkerung verteilt werden? Oliver Moritz, Sprecher des Innenministeriums NRW, ist zuversichtlich. Für den Fall eines Gaus habe man eine Planung erstellt, die als Richtlinie für den Katastrophenschutz der Kommunen gelten soll. „Der zu erwartende Zeitrahmen ist ausreichend, um eine Verteilung im Ereignisfall zu organisieren“, sagte Moritz dem Handelsblatt. Besorgte Bürgerinnen und Bürger neigten schnell dazu, Tabletten vorsorglich einzunehmen. Dies könne dazu führen, dass sie schutzlos sein, wenn die erhöhte Strahlenexposition eintritt. „Die Verteilung im Ereignisfall ermöglicht deutliche und zeitnahe Hinweise zur richtigen Einnahme“, so Moritz.

Susanne Bronner, Energieexpertin bei Greenpeace, bezweifelt indes, dass die Behörden die Tabletten schnell genug ausgeben können. „Der Katastrophenschutz ist vielerorts eher eingeschlafen“, sagt sie. Außerdem müsste das grenzübergreifende Frühwarnsystem schnell genug funktionieren. Hans-Josef Allelein, Professor am Lehrstuhl für Reaktorsicherheit an der RWTH Aachen, sieht das ähnlich kritisch. Im Falle eines Gaus, sagt er, wäre eine Verteilung der Kommunen von Jodtabletten „völlig blödsinnig“, sagt er auf Handelsblatt-Nachfrage. „Wenn Menschen unter Panik stehen, sind die Straßen blockiert, niemand kommt irgendwo durch.“

Im Ernstfall reicht die Jodtablette ohnehin nicht. Auch die Aachener Pressesprecherin Klösges betont, dass die Jodtablette zwar vor Schilddrüsenkrebs schütze, aber kein „Allheilmittel“ sei. Für die Bürger der Stadt hält Aachen deshalb eine Infobroschüre auf der Website parat. Darin steht, wie sich Bürger im Falle einer Katastrophe verhalten sollten. Nach der Broschüre sollten Bürger für den Fall einer Atomkatastrophe für 14 Tage vorsorgen – also ausreichend Wasser, Grundnahrungsmittel und Vitamintabletten lagern. Joachim Funke, Planungsforscher an der Universität Heidelberg, hält das für einen „normalen Bürger unrealistisch hoch“. „Allein die Regalflächen, die Sie für eine 14-tägige Bevorratung einer vierköpfigen Familie benötigten, sind schon ziemlich umfänglich. Nicht jedem dürfte ein eigener Lagerraum zur Verfügung stehen.“ Außerdem müssten solche Vorräte regelmäßig gepflegt werden, da es bei vielen Produkten Verfallsdaten gibt. „Das erfordert eine gute Logistik, Zeit und Geld.“

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