WirtschaftsWoche: Herr Techau, am Mittwoch empfängt Wladimir Putin den türkischen Staatschef Erdogan in Sotschi. Bahnt sich da eine antiliberale Allianz gegen den Westen an?
Jan Techau: Ich glaube, das ist eher ein Zweckbündnis auf Zeit. Die Türkei und Russland sind zwei ungleiche Partner, teilweise sogar Rivalen. Putin hat ganz klar das Ziel ausgegeben, die liberale Ordnung zu unterminieren. Er baut sein Russland als Gegenmodell zum Westen auf. Bei Erdogan hört man solche antiliberalen Töne auch. Aber er braucht den Westen auch. Ihm geht es mehr um die Machtsicherung zuhause.
Dafür nimmt er die Zerstörung des Rechtsstaats in Kauf.
Ja, das ist erschreckend. Aber wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, alle Beziehungen zur Türkei abzubrechen. Auch wenn Erdogans Politikstil absolut nichts mehr mit unserem Wertekanon zu tun hat, sollten wir versuchen, eine einigermaßen belastbare Verbindung zur Türkei zu behalten.
Und dafür zum Beispiel die Inhaftierung von Deniz Yücel ignorieren?
Nein, auf keinen Fall. Hier sind klare Worte unabdingbar. Es braucht die richtige Balance zwischen Kritik und Nähe. Wir benötigen die Türkei in vielen Gebieten noch: Flüchtlinge, Wirtschaft, Nato. Sicherlich ist es derzeit einfach, sich über Erdogan zu empören. Aber es wird auch eine Zeit nach Erdogan geben. Und wenn wir jetzt die Verbindungen kappen, servieren wir die Türkei Russland auf dem Silbertablett.
Zur Person
Jan Techau leitet das Richard C. Holbrooke Forum an der American Academy in Berlin und arbeitet als Autor. Nach dem Studium der Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts arbeitete Jan Techau zunächst als Pressereferent im Verteidigungsministerium. Später fokussierte er sich auf Europa und Außenpolitik und wechselte nach Brüssel. Dort übernahm er die Leitung von Carnegie Europe, einem außenpolitischen Think Tank. In seinem neuen Buch „Führungsmacht Deutschland – Strategie ohne Angst und Anmaßung“ fordert er von Deutschland die Rolle des „Servant Leadership“, also des dienenden Führens ein.
Russland ist also unser größter Rivale?
Russland ist kein Rivale, aber Russland strebt eine Rolle als Veto-Macht in Europa an. Das können wir nicht zulassen. Wir haben es mit einem Land zu tun, das sich gegen das westliche Modell stellt – und dazu noch den Energiehebel hat. Russland arbeitet gezielt daran, illiberale Parteien in Europa zu unterstützen. Das alles ist höchst problematisch.
Viele Politiker bedienen sich der Strategie, mit Außenpolitik von innenpolitischen Pleiten abzulenken.
In Deutschland sehe ich diese Gefahr nicht. Kein Kanzler hat so etwas in der Geschichte der Bundesrepublik getan. Das machen eher Diktatoren oder Autokraten. Auch in den USA gibt es diese Versuchung. Denn US-Präsidenten sind traditionell innenpolitisch schwach, aber außenpolitisch sehr mächtig. In Deutschland steckt man außenpolitisch lieber den Kopf in den Sand. Genau das aber darf Deutschland nicht mehr tun.
Sondern?
Deutschland muss sich überlegen, welche Weltordnung es haben will. Die Bundesrepublik lebt in einem Dilemma: Unser wirtschaftlicher Erfolg hängt von der liberalen, westlichen Grundordnung ab – aber die können wir selbst nicht garantieren. Zumindest nicht allein. Trotzdem muss diese Ordnung intakt bleiben, damit Deutschland prosperieren und in Frieden leben kann. Wir müssen uns also überlegen, wie wir Ordnung produzieren können, anstatt sie bloß zu konsumieren.
Stärkeres Engagement in der Außenpolitik
Und wie soll das gehen?
Anders als früher kann sich Deutschland die Ordnung nicht mehr von anderen Staaten einkaufen – sondern muss selber aktiv werden. Das heißt: Strategien entwickeln, Europa stärken – aber auch militärisch zulegen.
Das könnte teuer werden.
Teuer wird es so oder so. Um eine Ordnung aufrecht zu erhalten, muss man ständig in sie investieren, da gibt es keine Pause. Das fängt bei der EU an: Die müssen wir kontinuierlich reformieren. Und in die Nato müssen wir beständig investieren. Natürlich ist das teuer – und natürlich ist das unangenehm. Aber es gibt keine Alternative mehr. Deutschland ist zu stark geworden – und viele andere Länder sind zu schwach.
Sie fordern von Deutschland ein stärkeres Engagement in der Außenpolitik. Gibt es innenpolitisch nicht schon genug für die Regierung zu tun?
Das ist eine Milchmädchenrechnung. Außenpolitik und Innenpolitik sind immer miteinander verwoben. Es gibt kaum noch Themen, bei denen man da eine rote Linie ziehen könnte. Nehmen Sie zum Beispiel Syrien: Da hatte ein außenpolitisches Versagen knallharte innenpolitische Folgen. Oder Russland: Der Kreml greift massiv in die deutsche Innenpolitik ein. Wer sich nun zurücklehnt und sich auf die Innenpolitik besinnt, begeht einen schweren Fehler.
Probleme im deutsch-türkischen Verhältnis
Im Juni 2016 beschließt der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagiert erbost und unter anderem mit dem Besuchsverbot für Incirlik. Kanzlerin Angela Merkel erklärt Anfang September, die Resolution sei rechtlich nicht bindend - aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss. Das Besuchsverbot wird aufgehoben, doch vergessen ist die Resolution nicht.
Die Türkei hat sich verärgert darüber gezeigt, dass sich nach dem gescheiterten Putsch keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) plant zwar einen Besuch, der aber immer noch nicht stattgefunden hat. Der türkische EU-Minister Ömer Celik kritisiert, stattdessen seien aus Deutschland vor allem Mahnungen zur Verhältnismäßigkeit gekommen: „Bei hundert Sätzen ist einer Solidarität mit der Türkei, 99 sind Kritik.“
Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse Anti-Terror-Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht werden. Ohne diese Reform will die EU die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Erdogan nicht an die Flüchtlingsabkommen gebunden.
Auf Betreiben Erdogans beschließt das türkische Parlament, vielen Abgeordneten die Immunität zu entziehen. Betroffen ist vor allem die pro-kurdische HDP, die Erdogan für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hält. Parlamentariern droht Strafverfolgung - für Merkel „Grund tiefer Besorgnis“. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik, wo die Organisation ebenfalls verboten ist.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Für Aufregung sorgt zudem, dass der türkische Sportminister Ende September die Aufnahme eines Interviews mit der Deutschen Welle konfiszieren lässt. Die Deutsche Welle klagt auf Herausgabe.
Ankara fordert von Deutschland die Auslieferung türkischer Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den die Regierung für den Putschversuch von Mitte Juli verantwortlich macht. Neuer Streit ist damit programmiert.
Was passiert mit der westlichen Ordnung, wenn Deutschland seine Rolle nicht findet?
Dann entsteht ein geopolitisches Vakuum in der Mitte Europas. Dann ist die reichste Nation der EU ein strategischer Ausfall. Soweit darf es nicht kommen. Aber danach sieht es derzeit auch nicht aus. Deutschland übernimmt in vielen Bereichen bereits Verantwortung. Allerdings muss das noch deutlich stärker werden, denn die Lage spitzt sich zu. Deutschland muss ambitionierter werden – und als kluger Anführer auftreten. Nicht als Muskelprotz, sondern als Diener, der die eigenen Interessen auch mal zurückstellt.