Die Idylle auf dem G7-Gipfel auf Schloss Elmau hätte kaum größer sein können – und das lag nicht nur an dem Bergmassiv, das sich hinter dem Tagungsort majestätisch erhob. Trotz einiger Meinungsverschiedenheiten haben die Staats- und Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrieländer ihre Gemeinsamkeiten betont. In der Klimapolitik hat man sich gar auf ambitionierte Ziele geeinigt.
Gastgeberin Angela Merkel zeigte sich zufrieden, sie konnte sich als Macherin positionieren. Ihre Initiativen – wie auf dem G7-Gipfel – werden beachtet, international ist kaum umstritten, dass Deutschland auf einigen Feldern mehr Führung übernimmt.
Die Krise in der Ukraine, der Kampf gegen den IS im Nahen Osten, die Euro-Krise: Deutschland ist außenpolitisch gefragt, die Erwartungen der anderen Staaten sind gestiegen, aber abseits des G7-Gipfels möchte die Bundesrepublik keine Führungsrolle übernehmen. Zu Recht? Oder sollte Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke mehr politische Verantwortung übernehmen und außenpolitisch aktiver werden?
Die USA intervenieren, wenn Russland angreift
72 Prozent der Kanadier glauben daran, dass die USA im Falle eines Angriffs eines Nato-Mitglieds durch Russland militärische Unterstützung leisten würden. Nur 18 Prozent bezweifeln das.
In Spanien glaubt jeder siebte an militärische Hilfe durch die Amerikaner, jeder fünfte glaubt nicht daran.
In Italien ist das Bild ähnlich: 68 Prozent teilen die Auffassung, dass die USA eingreifen würden, 23 Prozent zweifeln daran.
68 Prozent der Deutschen verlassen sich auf die USA, 26 Prozent glauben nicht an eine militärische Intervention im Angriffsfall.
In Großbritannien liegt der Wert etwas niedriger: Hier sind nur 66 Prozent davon überzeugt, dass auf die USA Verlass ist - 24 Prozent zweifeln das an.
65 Prozent der Franzosen sind sich sicher: Im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied durch Russland würden die USA eingreifen. Allerdings ist es hier jeder Dritte, der nicht daran glaubt.
Am niedrigsten ist der Glaube an die USA in Polen. Weniger als die Hälfte, nämlich 49 Prozent, sind überzeugt davon, dass die USA militärische Hilfe leisten würden. 31 Prozent bezweifeln das.
„Die Rolle Deutschlands in der Welt ist ambivalent,“ sagt Christian Hacke, Politikwissenschaftler und Experte für Außen- und Sicherheitspolitik von der Universität Bonn. Auf der einen Seite sei Deutschland wirtschaftlich in jedem Fall eine Weltmacht – auf Augenhöhe mit den USA und China, aber politisch fehle es an einer klaren Linie, vor allem militärisch. Das Problem liege in der halbhegemonialen Stellung. Konkret heißt das: Deutschland ist zu groß, um ein Player von gleichen unter gleichen zu sein, aber zu klein, um zu führen.
Hinzukommen schlechte historische Erfahrungen, die Einsätzen des Militärs einen faden Beigeschmack verleihen, deshalb hält sich Deutschland aus den meisten militärischen Interventionen raus und lässt die anderen, vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich machen. „Für das geostrategische Denken ist das alles weniger positiv: Deutschland setzt auf eine Trittbrettfahrermentalität – und geht nicht voran,“ kritisiert Hacke.
„Wir sind eine Zivilmacht ohne Zivilcourage,“ sagt er weiter und nimmt dafür die Libyen-Krise als Beispiel. „Nie wieder Libyen“ heißt auch das informelle Motto des außenpolitischen Wandels, der durch Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen 2014 angestoßen wurde. Während Frankreich, Großbritannien und die USA 2011 einig waren, eine Flugverbotszone einzurichten, stand Deutschlands abseits, fast isoliert – und enthielt sich in einer Abstimmung bei den Vereinten Nationen.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine
Das flächenmäßig nach Russland größte europäische Land besitzt jede Menge davon: Eisenerz, Kohle, Mangan, Erdgas und Öl, aber auch Graphit, Titan, Magnesium, Nickel und Quecksilber. Von Bedeutung ist auch die Landwirtschaft, die mehr zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt als Finanzindustrie und Bauwirtschaft zusammen. Etwa 30 Prozent der fruchtbaren Schwarzerdeböden der Welt befinden sich in der Ukraine, die zu den größten Weizenexporteuren gehört. In der Tierzucht spielt das Land ebenfalls eine führende Rolle.
Sie ist gering. Das Bruttoinlandsprodukt liegt umgerechnet bei etwa 130 Milliarden Euro, in Deutschland sind es mehr als 2700 Milliarden Euro. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nicht einmal 3900 Dollar im Jahr. Wuchs die Wirtschaft 2010 um 4,1 und 2011 um 5,2 Prozent, waren es 2012 noch 0,2 Prozent. 2013 dürfte es nur zu einem Plus von 0,4 Prozent gereicht haben.
Exportschlager sind Eisen und Stahl, gefolgt von Nahrungsmitteln, Rohstoffen und chemischen Produkten. Wichtigstes Importgut ist Gas. Auch Erdöl muss eingeführt werden. Die Ukraine könnte aber vom Energie-Importeur zum -Exporteur werden, weil sie große Schiefergasvorkommen besitzt.
Sie ist von der Schwerindustrie geprägt, besonders von der Stahlindustrie, dem Lokomotiv- und Maschinenbau. Ein Grund ist, dass die Sowjetunion einen Großteil der Rüstungsproduktion in ihrer Teilrepublik Ukraine angesiedelt hatte. Eine Westorientierung und die Übernahme von EU-Rechtsnormen könnte das Land zunehmend zum Produktionsstandort für westliche Firmen machen.
Deutschland ist einer der wichtigsten Handelspartner der Ukraine. Gemessen an der Größe des Landes ist das deutsche Handelsvolumen aber unterdurchschnittlich. Zu den wichtigsten deutschen Exportgütern zählen Maschinen, Fahrzeuge, Pharmaprodukte und elektrotechnische Erzeugnisse. Wichtigste ukrainische Ausfuhrgüter sind Textilien, Metalle und Chemieprodukte. Nach Angaben des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft sind knapp 400 deutsche Unternehmen in der Ukraine vertreten. Bei den Direktinvestitionen liegt Deutschland auf Platz zwei hinter Zypern.
Chancen ergeben sich für die deutsche Wirtschaft vor allem im ukrainischen Maschinen- und Anlagenbau. Zudem ist die frühere Sowjetrepublik mit ihren rund 45 Millionen Einwohnern ein potenziell wichtiger Absatzmarkt für Fahrzeuge. Korruption und hohe Verwaltungshürden stehen Investitionen indes im Wege.
Rund ein Drittel der ukrainischen Exporte fließt in die EU. Eine engere wirtschaftliche Verknüpfung durch ein Handels- und Assoziierungsabkommen liegt auf Eis, nachdem Präsident Viktor Janukowitsch auf russischen Druck seine Unterschrift verweigerte. Für die EU ist die Ukraine für die Versorgung mit Erdgas von Bedeutung. Rund ein Viertel ihres Gases bezieht die EU aus Russland, die Hälfte davon fließt durch die Ukraine.
Mit Abstand wichtigster Handelspartner der Ukraine ist Russland. Ein Drittel der Importe stammt aus dem Nachbarland, ein Viertel der Exporte gehen dorthin. Der Regierung in Moskau ist eine Orientierung der Ukraine nach Westen ein Dorn im Auge. Stattdessen drängt sie das Land zum Beitritt zur Zollunion mit Kasachstan und Weißrussland.
Streit flammt zwischen beiden Ländern immer wieder über Gaslieferungen auf. Die Ukraine importiert fast ihr gesamtes Gas aus Russland, muss dafür aber einen für die Region beispiellos hohen Preis zahlen. Der Konflikt über Preise und Transitgebühren hat in der Vergangenheit zu Lieferunterbrechungen geführt, die auch die Gasversorgung Europas infrage stellten.
Aber ein Nicht-Einmischen bedeutet trotzdem Verantwortung zu übernehmen, wenn auch nicht militärisch. Denn diese Interventionen sind nicht immer sinnvoll – und lösen auch selten einen Konflikt, wichtiger ist die Diplomatie. Und das ist Deutschlands große Stärke: Was Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Krisenherden in Europa und auch in der Welt macht, ist knallharte Geopolitik: Sie reiste nach Minsk, um direkt mit den Präsidenten der Ukraine und Russlands zu verhandeln, trifft in Brüssel bei einem Dreier-Gipfel auf Frankreichs Präsident, Hollande und und Griechenlands Ministerpräsidenten Alexis Tsipras – kurz: Sie ist die zentrale Figur in der Euro-Krise – und auch US-Präsident Obama lobte: „Wenn es zum Erfolg [in der Ukraine-Krise] kommen wird, dann wird das sicherlich auch mit der außerordentlichen Geduld und den Anstrengungen von Bundeskanzlerin Merkel und ihres Teams zu tun haben.“ Mehr und mehr kommt ihr die Rolle einer geschickten Außenpolitikerin zu, ohne die in keiner der Krisen etwas „läuft“ – und das liegt nicht zuletzt an ihrer ruhigen und unaufgeregten Art, mit der sie versucht, die richtigen Akzente zu setzen.
Sinnvolle, neue Strategie?
Das ist zunächst einmal gut für Deutschlands Rolle in der Welt. Die Probleme liegen an anderer Stelle: Obwohl sich eine Mehrheit der Deutschen für die Außenpolitik interessiert, nimmt der Stellenwert der Nato und anderer Bündnisse deutlich ab – und mit Militäreinsätzen ist weder im Kriegsgebiet noch bei den Wählern etwas zu gewinnen. Diese Diskrepanz zeigt sich auch deutlich in einer Studie, die in der vergangenen Woche das US-Instituts Pew Research Center veröffentlicht hat. Daraus geht hervor, dass das Vertrauen der Deutschen in die Nato sinkt und eine Mehrheit einem östlichen Bündnispartner nicht gegen einen Angriff Russlands militärisch beistehen würde.
Wenn Russland „in einen ernsthaften militärischen Konflikt“ mit einem östlichen Nato-Land eintreten würde, dann wären der Umfrage zufolge nur 38 Prozent der Deutschen für den Einsatz der Bundeswehr. Von den US-Amerikanern wären 56 Prozent für einen Militäreinsatz auf Seiten des Bündnispartners, von den Polen 48 Prozent.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
Nur noch 55 Prozent der befragten Bundesbürger sehen der Pew-Untersuchung zufolge das nordatlantische Verteidigungsbündnis positiv. 2009 waren es noch 73 Prozent. Im Osten Deutschlands sind die Nato-Kritiker sogar in der Mehrheit: Nur 43 Prozent haben eine gute Meinung von der Allianz, 46 eine negative. Von den acht von Pew untersuchten Nato-Ländern war in Polen die Zustimmung mit 74 Prozent am größten.
An dieser Stelle wird also einmal mehr deutlich, dass die deutsche Außenpolitik vor einer großen Herausforderung steht: Sie muss den Graben zwischen den politischen Eliten verkleinern, die Entscheidungen treffen und der Bevölkerung, die sich durch manche Entscheidungen schlicht überrannt fühlt.
Fakt ist: Es gibt momentan keine andere Nation, allen voran mit der Bundeskanzlerin an der Spitze, die diese Rolle in Europa und in der Welt ausfüllen kann. "Für die deutsche Außenpolitik war das Jahr 2014 eine Wasserscheide", sagt Nora Müller, Bereichsleiterin Internationale Politik und Leiterin des Hauptstadtbüros der Körber-Stiftung. Angesichts vielfältiger Krisen – allen voran der Ukraine-Konflikt – habe die Bundesrepublik den Anspruch eingelöst, mehr außenpolitische Verantwortung zu übernehmen. „Wir können aber weder ein Selbstverständnis als Insel haben noch einen Anspruch als weltpolitischer Revolutionär", wie es Außenminister Frank-Walter Steinmeier einmal formuliert hat. Vielmehr müsse sich Deutschland Gedanken machen, wo die Interessen liegen und welche Handlungsoptionen es gibt – und natürlich auch wie groß der Handlungsspielraum überhaupt ist. Deutschland ist keine Nation, die alleine bestehen kann, sondern eingebettet ist, in ein System aus Bündnissen, die zu erfüllen sind – und darin eine Führungsverantwortung übernehmen sollte.
Ähnlich sieht das der Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Eberhard Sandschneider: "Die Bundesrepublik übt eine aktive Rolle in der Welt aus – und hat nach und nach mehr Verantwortung übernommen, wie man in der Ukraine-Krise und der Griechenlandfrage sehen kann." Mehr Verantwortung zu übernehmen, heiße nicht immer automatisch, militärische Mittel einzusetzen. Das sei das äußerste Mittel. Wichtiger seien politische, soziale und wirtschaftliche Stabilität.
Aber die deutsche Außenpolitik hat sich dennoch verändert: Die Bundesrepublik nimmt deutlich häufiger ihre Verantwortung war, wenn gleich auch deutlich indirekter. Statt aktiv militärisch einzugreifen, schickt Deutschland Ausrüstung und Ausbilder in den Irak, um dort Peschmerga-Kämpfer zu unterstützen. Deutschland unterstütze „diejenigen, die die Flüchtlinge schützen und die sich dem Islamischen Staat entgegenstellen. Das sind die irakischen Streitkräfte und innerhalb der irakischen Streitkräfte auch die Kurden, die Peschmerga.“
Die neue Strategie kann man als deutlich zu langsam bezeichnen, die zu lange braucht, um Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Man kann sie aber als unaufgeregt einschätzen, in der Entscheidungen reifen und im geopolitischen Kontext getroffen werden müssen – und das braucht Zeit. Fakt ist aber, dass "Deutschland ganz klar eine Weltmacht ist", wie Eberhard Sandschneider sagt. Aber diese Macht sei zeitlich begrenzt.
Mit Material von dpa und Reuters.