Die Schlacht ist vorbei. Der Stuttgarter Schlosspark, in dem vor Wochen noch Gegner des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 kampierten, ist von der Polizei geräumt, das Baugelände mit hohen Gittern und Holzwänden abgesperrt. Vom nahen Hauptbahnhof dringt Baulärm herüber, und was von Krawall und Protest übrig blieb, ist rührend hilflos. „DDR“ und „Murks 21“ haben S21-Gegner mit Klebepunkten auf die Holzwände gepinnt.
Wenige Hundert Meter weiter steht der baden-württembergische Landtag, und auch dort ist inzwischen leidlich Ruhe eingekehrt. Statt zu zanken, verteilen die Spitzenpolitiker von Grünen und SPD Nettigkeiten zum einjährigen Jubiläum der ersten deutschen Landesregierung unter grüner Führung. „Ich bin sehr zufrieden mit dem ersten Jahr. Die Koalition steht gut da“, sagt die grüne Fraktionsvorsitzende Edith Sitzmann. SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel, der während des Kampfes um Stuttgart 21 die Grünen attackierte, als sei er Oppositionspolitiker, rügt nun milde „einige Abstimmungsprobleme“ und findet ansonsten: „Wir sind auf Kurs.“
Zwei Jahre ohne Schulden
Die Bilanz nach einem Jahr: Die Koalition hat die Studiengebühren abgeschafft und die Grunderwerbsteuer erhöht. Im an Schulformen nicht armen Südwesten gibt es ab dem kommenden Schuljahr 40 neue Gemeinschaftsschulen, in denen die Unterscheidung zwischen Gymnasium, Haupt- und Realschule entfällt und in denen niemand sitzen bleiben soll. Eine Polizeireform überführt vier Landespolizeidirektionen und 37 Polizeidirektionen in zwölf regionale Präsidien. Und Finanzminister Nils Schmid (SPD) schaffte es 2011 und 2012, ohne neue Schulden auszukommen, worauf die Ratingagentur Standard & Poor’s das Land jüngst auf den Bestwert AAA hochstufte.
Das sieht durchaus nach Tatkraft aus. Doch hinter den Kulissen knirscht es im Getriebe. Monatelang überlagerten der Streit und die Volksabstimmung über Stuttgart 21 die Regierungsarbeit. Die Schulreform ist unter Fachleuten umstritten, und der ausgeglichene Haushalt, für den sich die Koalition feiert, ist „vor allem Einmaleffekten zu verdanken, das lässt sich in den kommenden Jahren nicht wiederholen“, gesteht SPD-Fraktionschef Schmiedel. Ab 2013 droht nun eine strukturelle Lücke im Haushalt von 2,5 Milliarden Euro – auch wegen des mit 40 Prozent rekordverdächtigen Anteils der Personalausgaben.
"Es war nicht alles schlecht"
Auch die Zusammenarbeit zwischen grün und sozialdemokratisch geführten Ministerien ist ausbaufähig, und selbst in politischen Stilfragen präsentiert sich der Regierungsapparat nicht immer sattelfest. Mitte April musste ein hoher Beamter im Wirtschaftsministerium gehen, der bei Facebook über „FDPisser“ herzog und eine Rückenansicht von Bettina Wulff in geschlitztem Kleid mit den Worten kommentierte: „Es war nicht alles schlecht.“
Und was ist mit dem „Green New Deal“, den Regierungschef Winfried Kretschmann bei seiner Amtsübernahme vor einem Jahr proklamierte? Nun gut, im Park der Villa Reitzenstein, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten, stehen jetzt Bienenstöcke, und im Verkehrsministerium gibt es ein neues Referat „Rad- und Fußverkehr“. Weil aber das notwendige Planungsgesetz auf sich warten lässt, sind 2011 im Ländle so wenig neue Windräder aufgestellt worden wie seit Jahren nicht mehr, nämlich exakt neun. In diesem Jahr sind es bislang: zwei. „Wir haben unterschätzt, wie lange es dauert, den rechtlichen Rahmen zu ändern“, sagt Kretschmann.
Schwachpunkte der Regierung
An anderen Stellen hat die Regierung auch unter Versäumnissen der CDU-Vorgängerregierung zu leiden. Ein Beispiel dafür ist die aufgeblähte Landesverwaltung. „Derzeit nehmen wir in manchen Bereichen Dinge dreimal in die Hand, wo es einmal reichen würde“, schimpft SPD-Mann Schmiedel. Die Datenverarbeitung des Landes sei „rückschrittlich und ineffizient“. Als er jüngst wissen wollte, wie viele Lehrer das Land wo beschäftigt, konnte ihm dies „weder das Ministerium noch eine Schulbehörde klar sagen“.
Die passablen Umfragewerte der Regierung sind denn auch überwiegend der Person des Ministerpräsidenten geschuldet. Kretschmann ist beliebt im Volk. Selbst seine politischen Gegner stellen die persönliche Integrität des gläubigen Katholiken nicht infrage. Im strukturkonservativen Südwesten füllt er das Bild des bodenständigen (und leicht schrulligen) Landesvaters so perfekt aus, dass es bisweilen an Koketterie grenzt. Der ehemalige Biologielehrer durchwandelt sein Land wie ein gütiger Monarch, zitiert die Bibel und die Philosophin Hannah Arendt – und hält sich von der garstigen Tagespolitik möglichst fern. Von der Opposition ist er dadurch kaum dingfest zu machen. „Winfried Kretschmann ist ein netter Kerl, aber er geht Sachdebatten aus dem Weg und verschanzt sich hinter präsidialem Gehabe“, sagt Oppositionsführer Peter Hauk (CDU).
Wirtschaft auf Kuschelkurs
Die Opposition kann noch nicht einmal darüber klagen, dass die Wirtschaft nicht läuft. Es brummt im Südwesten, das Bruttoinlandsprodukt legte 2011 um 4,4 Prozent zu – das ist der höchste Wert aller Bundesländer. Der Export stieg um zwölf Prozent, wichtige Unternehmen wie Porsche melden neue Absatz- und Gewinnrekorde. Wer will da noch an Kretschmanns Äußerung zum Amtsantritt denken, weniger Autos seien besser als mehr?
Fakt ist: Das Horrorszenario einer ideologischen Graswurzelrevolution ist im Industrieland Baden-Württemberg ausgeblieben. Das Unternehmerlager hält sich mit Kritik denn auch auffällig zurück. Hans-Eberhard Koch, Chef des Landesverbands der baden-württembergischen Industrie, lobte gar in der „taz“ die „pragmatische Politik“ der Regierung.
Doch was davon ist ernst gemeint – und was strategisches Kalkül, es sich mit den Herrschenden nicht zu verscherzen? „Die Verkehrs- und Energiepolitik der Koalition ist für ein Export- und Transitland wie Baden-Württemberg ein Wettbewerbs- und Investitionshindernis“, schimpft Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Stuttgart. Umso mehr wundert sich der Chef der bundesweit zweitgrößten Kammer über den Kuschelkurs der Wirtschaft. „Diese Defensive überrascht, denn die Interessen der Wirtschaft finden bei den meisten Ministerien nur geringe oder gar keine Beachtung.“
Kritik wird nicht gerne gesehen
Wenn es dann doch mal öffentlich geäußertes Missfallen an ihrer Arbeit gibt, reagieren nicht wenige Kabinettsmitglieder überraschend dünnhäutig. Gemunkelt wird von unfreundlichen E-Mails und lautstarken Telefonaten zwischen Kabinettsmitgliedern und Wirtschaftsvertretern. Als die schwäbische Unternehmer-Ikone Hans-Peter Stihl Mitte April seinen 80. Geburtstag feierte, wollte er ausdrücklich keinen Regierungsvertreter dabei haben.
Start der Windrad-Offensive
Spätestens nach der Sommerpause will die Koalition nun die Schlagzahl erhöhen – und nicht alles dürfte die Wirtschaft erfreuen. Bis zum Herbst tritt ein Tariftreuegesetz in Kraft, wonach Land und Kommunen nur noch Aufträge an Firmen vergeben dürfen, die den Tariflohn zahlen. Ebenfalls in der zweiten Jahreshälfte will Grün-Rot beschließen, dass neu errichtete „Nicht-Wohngebäude“ wie Ladenlokale einen Teil ihres Strombedarfs aus regenerativen Quellen decken müssen.
Vor allem aber soll es endlich mit der Windkraft-Offensive losgehen. Ein neues Landesplanungsgesetz tritt in Kürze in Kraft. „Überall dort, wo in Baden-Württemberg viel Wind weht, dürfen künftig Windkraftanlagen gebaut werden – etwa auf den Schwarzwaldhöhen“, kündigt die grüne Fraktionsvorsitzende Sitzmann an. Restriktionen würden „auf ein Minimum reduziert“.
In den betroffenen Regionen freut das nicht jeden. „Wenn bald auf jedem Hügel ein Windrad steht, wird die Akzeptanz in der Bevölkerung dramatisch sinken“, warnt Lothar Wölfle (CDU), Landrat des Bodenseekreises. Gegenwind von der Basis dürfte in jedem Fall kommen: Unter den 35 Landräten in Baden-Württemberg ist kein einziger SPD-Mann oder Grüner.