Bagatellfälle verstopfen Notaufnahmen Die eingebildeten Kranken

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Ärzte arbeiten wie Detektive

Oder das Mädchen, das über Seitenziehen klagt. Sie hat ein Piercing in der Lippe, genau wie ihre beleibte Mutter mit der lila Topffrisur. Zwischen ihren Beinen klemmt eine Plastiktüte mit ihren Einkäufen: Limo, Kekse und zwei Stangen Discounter-Zigaretten. „Die rauchen sie aber nicht vor ihrer Tochter?“, fragt Hoffmann streng.
Sie setzt sich auf den Stuhl vor das Mädchen. Wie jeden Tag trägt die 45-Jährige weißen Kittel, weißes T-Shirt, weiße Hose und weiße Turnschuhe. In ihrer linken Brusttasche stecken vier Kugelschreiber, eine Pupillenlampe und ein Edding, mit dem sie Infusionen beschriftet.

Plaudereien gibt es keine, manchmal vergeht eine Schicht, ohne dass Hoffmann auf der Toilette war. Sie muss so schnell wie möglich erfahren, welche Art von Beschwerden den Patienten plagen und wie akut sie sind. Je nachdem, wer vor ihr sitzt, fragt sie mal sanft, mal streng, oder wie ein Detektiv, der einen komplizierten Tathergang rekonstruieren muss.

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Jetzt wühlt sie sich durch die diffusen Schilderungen von Mutter und asthmatischer Tochter. Nachdem sie mehrfach unterbrochen und nachgehakt hat, weiß sie, dass das Mädchen bei einer Tante lebt, vor drei Wochen eine Lungenentzündung hatte und seither Schmerzen im Brustkorb verspürt. Statt sich von einem Facharzt betreuen zu lassen, tingelte sie von einem Arzt zum nächsten, je nachdem, wo sie gerade wohnte. Der letzte hielt es für eine gute Idee, sie noch einmal zu röntgen.
Frau Hoffmann ist verärgert. „Ich verstehe nicht, warum Sie hergekommen sind, statt einen Termin bei einem Lungenarzt zu vereinbaren. Schmerzen hat Ihre Tochter nicht erst heute und wir sind keine Röntgenpraxis.“ Bevor die Mutter die Geschichte von der Tante wiederholen kann, die sich nicht kümmert, fällt ihr Hoffmann ins Wort. „Das ist nichts, was man an einem Freitag Nachmittag behandeln muss.“

Sie hört trotzdem sorgfältig die Lunge des Mädchens ab, das eingeschüchtert auf dem Behandlungsstuhl sitzt. „Da ist nichts“, sagt Frau Hoffmann noch einmal. Sie vermutet, dass eine Nervenreizung wegen des Hustens die Beschwerden verursacht: „Wir röntgen nicht, wenn ich dafür keinen triftigen Grund sehe, erst recht keine Minderjährige“. Sie schlägt vor, zur Sicherheit Blut abzunehmen und auf Entzündungswerte zu untersuchen. Mutter und Tochter empfiehlt sie, sich für einen festen Arzt zu entscheiden und das Asthma von ihm behandeln zu lassen.

„Wie ich vermutet habe, keine Entzündung“, sagt Hoffmann, als sie später die Ergebnisse der Blutuntersuchung in den Händen hält. „Das Mädchen tut mir leid“. Doch damit kann sie sich nicht lang befassen. Sie muss auch diesen Bagatellfall dokumentieren, den Leistungserfassungsbogen ausfüllen, den Befund schreiben.

Dann eilt sie zurück in den Ärztebereich. Der gleicht einem Ameisenhaufen in weiß. Ärzte, Praktikanten, Pflegekräfte, Sanitäter wuseln, Kugelschreiber klicken, Telefone klingeln. Die Dame an der Anmeldung nimmt Patientendaten auf. Frau Hoffmann wirkt in dem Trubel wie eine Pilotin, die eine vollbesetzte Maschine im Sturm auf die Landebahn drücken muss. Konzentriert blickt sie in den Computer, telefoniert, gibt nebenbei kurze Anweisungen, fragt nach. Wie es der Frau mit den Gallensteinen gehe und wer bitte auf die Idee gekommen sei, den Alzheimerpatienten mit Hühnchen zu füttern. Klar bleibe da ein Knochen im Hals stecken.

Sie rollt auf dem Schreibtischhocker zum Fax und zurück. Sie kümmert sich darum, dass die Patienten, die bleiben müssen, ein Bett auf der überbordenden Station bekommen. Dass eine Pflegekraft der Dementen, die immer noch auf ihren Verband wartet, Tee bringt. Dass sie ein Angehöriger empfängt, wenn der Chirurg sich ihrer endlich erbarmt hat.

Sie sorgt dafür, dass Patienten, denen es tatsächlich schlecht geht, sofort Hilfe bekommen. Etwa Menschen mit psychischen Problemen, Kinder, Krebskranke, weil die seelisch besonders leiden, echte Akutfälle. Dabei hilft der Ärztin und ihren Kollegen die Manchester-Triage, ein Verfahren, das einschätzt, wie es um die Patienten steht.


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