Mit Blaulicht rollt der Rettungswagen auf den Parkplatz der Notaufnahme eines Krankenhauses in Düsseldorf-Gerresheim. Er hält an, die hinteren Türen öffnen sich. Eine Trage gleitet heraus, darauf ist eine Frau um die 80 geschnallt, die zwar verwirrt, aber gesund wirkt. Einen Moment lang schaut sie um sich, als sei sie nicht von dieser Welt. Erst als ihr dämmert, dass zwei Sanitäter sie in ein Krankenhaus tragen, beginnt sie zu stöhnen. Marion Hoffmann, die Internistin, die die Zentrale Notaufnahme (ZNA) der SANA-Klinik leitet, beobachtet das Schauspiel. Ein Sanitäter drückt ihr die Überweisung in die Hand, darauf steht: „Verdacht auf Fingerfraktur“, das Kästchen „Chirurgie“ ist angekreuzt.
Im Behandlungsraum schaut Hoffmann sich den blauen Zeigefinger der Frau kurz an und sagt: „Den brauchen wir nicht zu röntgen, ich sehe gleich, dass nichts gebrochen ist“. Als Internistin versorgt nicht Marion Hoffmann die Seniorin, sondern der Fachkollege aus der Chirurgie. Der ist genervt, er will sich mit einem solchen Bagatellfall jetzt nicht befassen. Die Frau muss also warten. Für zwei Stunden wird die demente Dame einen Behandlungsraum blockieren, zwischendurch ein paar Mal „Hilfe“ rufen und warten, dass irgendetwas passiert.
Bagatellfälle, das sind Patienten, die mit Schnupfen, Husten oder eben einem Hämatom in die Notaufnahmen kommen und den Ärzten, die sich eigentlich um Notfälle kümmern sollen, Zeit und Nerven rauben. Sie haben sich inzwischen zu einem ernsten wirtschaftlichen Problem für Kliniken entwickelt. Das zeigt ein Gutachten des auf die Gesundheitsbranche spezialisierten Beratungsunternehmens Management Consult Kestermann im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Demnach seien die Notaufnahmen von Krankenhäusern „stark überlastet und unterfinanziert“. Ein Drittel der Patienten gehöre nicht dorthin, sie müssten von niedergelassenen Ärzten behandelt werden. Der Stau führt nicht nur zu langen Wartezeiten. Menschen, die wegen Lappalien in die Klinik gehen, sind teuer. So lagen 2015 die durchschnittlichen Kosten für einen ambulanten Notfallpatienten bei 120, die Erlöse jedoch nur bei 32 Euro, ein Minus von 88 Euro. Mit den Notaufnahmen, so die Studie, machen die Krankenhäuser in Deutschland eine Milliarde Euro Verlust pro Jahr. Das klingt bei einem Marktvolumen von jährlich insgesamt 82 Milliarden Euro nach Peanuts. Doch das täuscht. „Die Krankenhäuser kommen gerade so durch, den einzelnen Häusern tut dieses Defizit richtig weh“, sagt Andreas Beivers, Dekan für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fresenius in München.
Wo Patienten Informationen zu IGeL-Leistungen finden
Das Portal stellt individuelle Gesundheitsleistungen auf den Prüfstand. Betrieben wird es von Medizinern und Gesundheitsexperten, die in kurzen Fachartikeln die IGeL-Leistungen bewerten.
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) wurde 2004 gegründet und betreibt das Portal www.gesundheitsinformation.de, welches bei Entscheidungen in Gesundheitsfragen unterstützen soll. Medizinischer Leistungen werden auf deren Nutzen, Qualität und Wirtschaftlichkeit geprüft und die Ergebnisse in dem Portal veröffentlicht.
Die Verbraucherzentrale bietet auf ihrer Homepage Informationen und Tipps im Umgang mit IGeL-Leistungen, für das Arztgespräch und Beispiele für Leistungen an. Individuelle Beratung kann per E-Mail, Telefon und persönlich wahrgenommen werden.
Denn obwohl die Kliniken teure Diagnostik mit modernen Geräten vorhalten, vergüten die Krankenkassen ihre Leistungen wie den Betrieb normaler, weniger kostenintensiver Arztpraxen. Das kritisiert etwa die Deutsche Krankenhausgesellschaft. „Die Krankenhäuser versorgen schon heute mehr Notfälle als die niedergelassenen Ärzte – zu deutlich schlechteren Konditionen“, sagt der Hauptgeschäftsführer Georg Baum. Dazu fehlt es an Investitionen, was eigentlich Aufgabe der Länder wäre.
Die bringen nach Berechnungen des Krankenhaus Rating Reports 2015 allerdings nur die Hälfte der nötigen Gelder auf, was mit der finanziellen Situation in den Ländern zusammenhängt, meint Beivers. Der Investitionsstau liegt laut der Studie bei 12 Milliarden Euro, bis 2020 könnte der Anteil der Krankenhäuser, die Gefahr laufen, insolvent zu gehen, von 16 auf 27 Prozent steigen.
Es fehlt an Personal, doch das liegt nicht nur an knappen Finanzen. Wenige Ärzte sind laut Beivers bereit, sich in den ungeliebten Notfallschichten aufzureiben. Das gilt für die Ambulanzen der Kliniken wie für die Bereitschaftspraxen der niedergelassenen Ärzte, die den Krankenhäusern die Nichtnotfälle abnehmen sollten. „Die ständige Unterbesetzung kann einen wahnsinnig machen“, sagt Marion Hoffmann. Sie versucht dennoch, das nicht an den Patienten auszulassen. Um die 60 Personen erlebt sie während einer Schicht, die von acht bis 17 Uhr dauert. Davon, schätzt sie, sind nur zehn Prozent echte Notfälle. Dennoch kann sie niemanden wegschicken: Man stelle sich vor, der Patient mit Übelkeit hat doch einen Herzinfarkt.
Ärzte arbeiten wie Detektive
Oder das Mädchen, das über Seitenziehen klagt. Sie hat ein Piercing in der Lippe, genau wie ihre beleibte Mutter mit der lila Topffrisur. Zwischen ihren Beinen klemmt eine Plastiktüte mit ihren Einkäufen: Limo, Kekse und zwei Stangen Discounter-Zigaretten. „Die rauchen sie aber nicht vor ihrer Tochter?“, fragt Hoffmann streng.
Sie setzt sich auf den Stuhl vor das Mädchen. Wie jeden Tag trägt die 45-Jährige weißen Kittel, weißes T-Shirt, weiße Hose und weiße Turnschuhe. In ihrer linken Brusttasche stecken vier Kugelschreiber, eine Pupillenlampe und ein Edding, mit dem sie Infusionen beschriftet.
Plaudereien gibt es keine, manchmal vergeht eine Schicht, ohne dass Hoffmann auf der Toilette war. Sie muss so schnell wie möglich erfahren, welche Art von Beschwerden den Patienten plagen und wie akut sie sind. Je nachdem, wer vor ihr sitzt, fragt sie mal sanft, mal streng, oder wie ein Detektiv, der einen komplizierten Tathergang rekonstruieren muss.
Jetzt wühlt sie sich durch die diffusen Schilderungen von Mutter und asthmatischer Tochter. Nachdem sie mehrfach unterbrochen und nachgehakt hat, weiß sie, dass das Mädchen bei einer Tante lebt, vor drei Wochen eine Lungenentzündung hatte und seither Schmerzen im Brustkorb verspürt. Statt sich von einem Facharzt betreuen zu lassen, tingelte sie von einem Arzt zum nächsten, je nachdem, wo sie gerade wohnte. Der letzte hielt es für eine gute Idee, sie noch einmal zu röntgen.
Frau Hoffmann ist verärgert. „Ich verstehe nicht, warum Sie hergekommen sind, statt einen Termin bei einem Lungenarzt zu vereinbaren. Schmerzen hat Ihre Tochter nicht erst heute und wir sind keine Röntgenpraxis.“ Bevor die Mutter die Geschichte von der Tante wiederholen kann, die sich nicht kümmert, fällt ihr Hoffmann ins Wort. „Das ist nichts, was man an einem Freitag Nachmittag behandeln muss.“
Sie hört trotzdem sorgfältig die Lunge des Mädchens ab, das eingeschüchtert auf dem Behandlungsstuhl sitzt. „Da ist nichts“, sagt Frau Hoffmann noch einmal. Sie vermutet, dass eine Nervenreizung wegen des Hustens die Beschwerden verursacht: „Wir röntgen nicht, wenn ich dafür keinen triftigen Grund sehe, erst recht keine Minderjährige“. Sie schlägt vor, zur Sicherheit Blut abzunehmen und auf Entzündungswerte zu untersuchen. Mutter und Tochter empfiehlt sie, sich für einen festen Arzt zu entscheiden und das Asthma von ihm behandeln zu lassen.
„Wie ich vermutet habe, keine Entzündung“, sagt Hoffmann, als sie später die Ergebnisse der Blutuntersuchung in den Händen hält. „Das Mädchen tut mir leid“. Doch damit kann sie sich nicht lang befassen. Sie muss auch diesen Bagatellfall dokumentieren, den Leistungserfassungsbogen ausfüllen, den Befund schreiben.
Dann eilt sie zurück in den Ärztebereich. Der gleicht einem Ameisenhaufen in weiß. Ärzte, Praktikanten, Pflegekräfte, Sanitäter wuseln, Kugelschreiber klicken, Telefone klingeln. Die Dame an der Anmeldung nimmt Patientendaten auf. Frau Hoffmann wirkt in dem Trubel wie eine Pilotin, die eine vollbesetzte Maschine im Sturm auf die Landebahn drücken muss. Konzentriert blickt sie in den Computer, telefoniert, gibt nebenbei kurze Anweisungen, fragt nach. Wie es der Frau mit den Gallensteinen gehe und wer bitte auf die Idee gekommen sei, den Alzheimerpatienten mit Hühnchen zu füttern. Klar bleibe da ein Knochen im Hals stecken.
Sie rollt auf dem Schreibtischhocker zum Fax und zurück. Sie kümmert sich darum, dass die Patienten, die bleiben müssen, ein Bett auf der überbordenden Station bekommen. Dass eine Pflegekraft der Dementen, die immer noch auf ihren Verband wartet, Tee bringt. Dass sie ein Angehöriger empfängt, wenn der Chirurg sich ihrer endlich erbarmt hat.
Sie sorgt dafür, dass Patienten, denen es tatsächlich schlecht geht, sofort Hilfe bekommen. Etwa Menschen mit psychischen Problemen, Kinder, Krebskranke, weil die seelisch besonders leiden, echte Akutfälle. Dabei hilft der Ärztin und ihren Kollegen die Manchester-Triage, ein Verfahren, das einschätzt, wie es um die Patienten steht.
Ampel-Diagnosesystem stuft Dringlichkeit ein
Mit Hilfe dieses Diagnosesystems, das viele europäische Länder nutzen, verknüpfen geschulte Pflegekräfte die Symptome der Patienten mit bestimmten Farben. Rot bedeutet, alle anderen Tätigkeiten müssen warten, der Patient braucht sofort Hilfe. Blau heißt, den Patienten kann man auch erst nach 120 Minuten versorgen. In der Realität warten Betroffene auch mal vier Stunden, weil Ärzte den Ansturm nicht bewältigen können.
Auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegt eine angebissene Spinatpizza, die niemand mehr essen wird. Sie ist kalt. Daneben steht eine Plastikbox mit Kirschgummibärchen. Eine junge Unfallchirurgin fischt nach den Früchtchen und stopft sich ein paar in den Mund. „Ich liebe diese Kirschen“ sagt sie. „Du kannst auch echte haben“, sagt Marion Hoffmann. „Dann könntet ihr mich intubieren, das wollt ihr nicht“. „Hin und wieder intubiere ich ganz gern“, scherzt Hoffmann.
„Nicht mich“, ruft die Chirurgin, die schon den nächsten Patienten ansteuert, während die Demente im Nebenzimmer wieder einmal stöhnt. Anders als Hoffmann geht die Chirurgin nicht bis zum Wartesaal, um den Besucher durch die elektrische Tür zu bitten. Die Tür markiert für sie die Grenze zu den Störenfrieden. Sie brüllt einen Namen und watschelt in den Behandlungsraum. Wer gerade raucht oder Kaffee trinkt, darf sich wieder hinten anstellen. „Das ist eine Notaufnahme, kein Café“, sagt sie dann.
Hinter ihr humpelt eine Lehrerin Mitte 50, die sich an ihren Mann krallt. Sie sei auf der Treppe gestolpert und könne nicht mehr auftreten. „Geht das Auftreten gar nicht oder nicht gut“, fragt die Chirurgin. Sie drückt ein paar Mal in die Fußsohle und meint, sie solle bitte einmal die Ferse aufsetzen. „Klappt doch“, dröhnt sie, „nicht auftreten können, ist etwas anderes. Ich sage ihnen gleich, es ist weder etwas gebrochen noch gerissen, sonst wäre der Knöchel blau. Zur Sicherheit röntgen wir das, sie bekommen noch ein Verbändchen, dann ist gut. Krücken brauchen sie nicht.“
Nach 66 Sekunden komplimentiert sie das Ehepaar hinaus. Sie lässt sich auf den Hocker vor den Computer plumpsen und hackt in die Tasten. Auch eine Konsultationszeit von einer Minute bedarf einer Nachbearbeitung von zehn Minuten. „Das habe ich gleich gesehen, dass sie nichts hat“, murmelt sie.
So wie die Lehrerin handhaben es viele. Es fehlt an niedergelassenen Ärzten oder Ambulanzen des kassenärztlichen Notdienstes, meint Hoffmann. Gerade an den Wochenenden oder nach 17 Uhr. Statt Wochen auf einen Termin beim Facharzt oder in der Röntgenpraxis zu warten, fluten Patienten lieber die Kliniken. Die haben immer offen.
Um den Ansturm auf die Notaufnahmen zu begrenzen, fordert der Hartmannbund Nordrhein, ein regionaler Berufsverband der Ärzte in Deutschland, eine Gebühr von zehn Euro. Ein Vorschlag, von dem Marion Hoffmann wenig hält. „Das würde noch mehr Verwaltungsaufwand bedeuten. Gerade die, die es sich nicht leisten können, aber Hilfe brauchen, bleiben dann weg“. Sinnvoller wäre ein „Schleusenarzt“ im Umfeld der Notaufnahme. Ein Allgemeinmediziner, der die Patienten versorgt, die keine Notfälle sind.
Ein Vorschlag, den das Krankenhausstrukturgesetz, das 2016 in Kraft getreten ist, umsetzen will. Es verpflichtet nicht nur die Kassenärztlichen Vereinigungen, die die Interessen der niedergelassenen Ärzte in Deutschland vertreten, vertragsärztliche Notfallpraxen an die Krankenhäuser anzugliedern. Es soll die Kliniken auch finanziell entlasten. „Das löst aber noch nicht das Problem, dass Patienten Notaufnahmen überschwemmen“, sagt Beivers. Dafür brauche es mehr qualifiziertes Personal, etwa indem man einen Facharzt für Notfallmedizin einführe. Das würde die Arbeit der Feuerwehrleute in den Ambulanzen aufwerten und sicherstellen, dass kompetente Mediziner nachkämen.
Frau Hoffmann eilt zurück in den Ärztebereich. Wer mit ihr Schritt halten will, muss joggen. An ihren Schläfen kleben die Haare. Es ist 16.30 Uhr ihre Schicht neigt sich dem Ende zu. Inzwischen hat der gestresste Chirurg die demente Frau mit einem Verband an der Hand in einen Krankentransport nach Hause gesetzt. Marion Hoffmann rollt hinter den Computer, bereitet die Übergabe vor. Sie bittet eine Pflegerin, einer Angstpatientin Tee zu bringen, telefoniert mit der Psychiatrie, verabschiedet sich von einem Patienten mit Gallengangverschluss, für den sie endlich ein Bett organisiert hat.
Die Bilanz an diesem Tag: 58 Patienten, davon drei echte Notfälle.