Die Rückstellungen in den Bilanzen der Kernkraftwerksbetreiber liegen derzeit bei 38,7 Milliarden Euro – aber zusätzlich zum Rückbau kommen auch noch die Kosten der Endlagerung. Das Geld haben die Unternehmen nicht flüssig auf dem Konto, sondern investiert, beispielsweise in konventionelle Kraftwerke. Doch seit mit der Energiewende diese Stromfabriken immer weniger Geschäft machen, die Anlagen mithin entwertet werden, bangt die Politik um die Rücklagen.
Zudem liebäugeln manche Unternehmen damit, die Altlasten in einer separaten Gesellschaft abzuspalten. E.On arbeitet bereits daran. Schnurrten die Rücklagen weiter zusammen, wäre die zukunftsfähige Muttergesellschaft aus der Haftung heraus, argwöhnt die Politik. Die Bundesregierung will deshalb „gesetzlich dafür sorgen, dass die Rückstellungen tatsächlich zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden“, bekräftigt die Atomausstiegsministerin.
Im Klartext: Der Fluchtweg soll verrammelt werden. Dagegen beklagen die Stromversorger, dass ihnen erst die lukrativen Atommeiler weggenommen und danach durch politische Entscheidungen auch noch die Rücklagen-Kraftwerke entwertet wurden.
Die Atomklagen der Energiekonzerne
E.On, RWE und Vattenfall haben gegen den 2011 beschlossenen beschleunigten Atomausstieg vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt. Das Gericht will noch 2015 entscheiden. Den Konzernen geht es nicht darum, den bis Ende 2022 geplanten Ausstieg rückgängig zu machen. Sie fordern jedoch Schadenersatz, da die Bundesregierung wenige Monate vor der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima die Laufzeiten der Meiler noch verlängert hatte. Sollte das Verfassungsgericht den Unternehmen Recht geben, müssten diese den Schadenersatz in weiteren Verfahren erstreiten. Eon fordert über acht Milliarden Euro. RWE hat keine Zahlen genannt, die Analysten der Deutschen Bank gehen von sechs Milliarden Euro aus. Vattenfall will 4,7 Milliarden Euro und klagt zudem vor einem Schiedsgericht in den USA.
E.On, RWE und EnBW klagen gegen Bund und Länder wegen des nach der Atomkatastrophe von Fukushima verhängten dreimonatigen Betriebsverbots für die sieben ältesten der damals 17 deutschen AKWs plus dem damals geschlossenen AKW Krümmel. Das Moratorium lief von März bis Juni 2011 und mündete schließlich im August im endgültigen Ausstiegsbeschluss. Ursprünglich hatte lediglich RWE geklagt. Nachdem der Energieriese vor Gericht Recht bekam, zogen Eon und EnBW nach. Eon klagt auf Schadenersatz in Höhe von 380 Millionen Euro. RWE fordert 235 Millionen Euro, EnBW einen „niedrigen dreistelligen Millionenbetrag“.
E.On, RWE und EnBW klagen auf eine Befreiung und Rückzahlung der 2011 eingeführten Brennelementesteuer. Diese wird noch bis 2016 erhoben. Eon hat nach eigenen Angaben 2,3 Milliarden Euro an den Bund gezahlt, RWE 1,23 Milliarden Euro und EnBW 1,1 Milliarden Euro. Die Verfahren sind vor dem Bundesverfassungsgericht und der Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig. Der Generalanwalt des EuGH hält die Steuer jedoch mit europäischem Recht vereinbar. Seine Einschätzung ist für das Gericht aber nicht bindend.
E.On hat im Oktober 2014 wegen der im Atomgesetz vorgesehenen standortnahen Zwischenlagerung wieder aufbereiteter Atomabfälle, die aus dem Ausland zurückgeholt werden, geklagt. Die Klage richtet sich gegen die Länder Niedersachsen und Bayern sowie den Bund. Vattenfall hat im selben Zusammenhang gegen Schleswig-Holstein und den Bund geklagt. Auch RWE hat Klage eingereicht. Es geht um Mehrkosten für die Betreiber, nachdem es keine Transporte dieser Abfälle mehr in das Lager nach Gorleben geben soll. Die Konzerne halten Gorleben jedoch weiter für den richtigen Standort.
In Lubmin gehen die Arbeiten planmäßig voran. Die rund 5000 vorhandenen Brennelemente wurden in 65 Castor-Behälter verpackt und im neu errichteten Zwischenlager deponiert, das auch alle anderen strahlenden Hinterlassenschaften aufnehmen soll. 2016, 20 Jahre nach dem Start, soll die gesamte Demontage abgeschlossen sein. Das Ende der Dekontamination freilich ist für 2028 kalkuliert, mithin fast 40 Jahre nach der Stilllegung der Reaktoren. Für Deutschland bedeutet das, dass die Arbeiten bis ins Jahr 2060 dauern werden; schließlich geht das letzte Kernkraftwerk 2022 vom Netz. Hendricks rechnet sogar mit noch längeren Zeiträumen.
Problemlos wird es nicht bleiben. „Eine Nachnutzungsvision fördert die Akzeptanz“, hat EWN-Chef Cordes aus den bisherigen Projekten – unter anderem dem Abbau der Kernforschungsreaktoren in Karlsruhe und Jülich – gelernt. Auch Hendricks rechnet fest damit, dass es an westdeutschen Kernkraftwerks-Standorten zu Protesten kommen wird, wenn erstmal die Bauteile zersägt werden sollen. „Dann muss man mit den Bürgern klar reden: Ihr wolltet den Ausstieg, dann muss jetzt auch der Rückbau kommen.“
Der zweite Engpass: Bald fehlen die Experten. Die Betriebsmannschaft der EWN beispielsweise ist im Schnitt 52 Jahre alt, etliche Mitarbeiter haben einst noch am jüngsten, dem fünften Reaktorblock des energetischen DDR-Stolzes mitgebaut. Schon dies, so Cordes, sei ein psychologisches Problem, das auch in den westdeutschen Standorten auftreten wird: „Die Betriebsmannschaften müssen abbauen, was sie einst aufgebaut haben.“ Cordes wünscht sich „einen Mix aus alten Hasen und Nachwuchskräften, die dann den Rückbau vollenden“.
Doch junge Kerntechnik-Ingenieure folgen nicht nach, seit die Kernenergie politisch geächtet wurde. Reihenweise wurden die Lehrstühle geschlossen. Mit dem Rückbau, glaubt Hendricks, könne man nun wieder besser für den Beruf werben, und die Beschäftigung sei auch gesichert. „Mit dem Rückbau sind wir sicher 80 Jahre beschäftigt, da kann man noch mehrere Generationen beschäftigen.“
Das größte Problem steht auch den Lubminer Zerlegern noch bevor. Die fünf riesigen Reaktordruckbehälter, in denen einst die Brennstäbe die kostbare Energie abgaben, stehen noch unverändert auf dem Gelände. Der Grund: Auch die Weltmarktführerin Sachen Rückbau wissen nicht, wie sie den 140 Tonnen schweren Ungetümen beim Entgiften und Zerkleinern beikommen könnten.
Ein wenig Zukunft kann die EWN zumindest schon vorzeigen. Derzeit kommen 14.000 bis 17.000 Touristen pro Jahr, um sich die Arbeiten anzuschauen. Und in der ausgeräumten Maschinenhalle, in der einst die acht großen Dampferzeuger standen, hat der Kranhersteller Liebherr eine Fertigung für große Ausleger, Brücken und Bauteile für Bohrinseln eingerichtet.