Barbara Hendricks' Sommerreise Greifswald ist ein Modell für den Atomausstieg

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Gesetzliche Regelungen für Rückstellungen der AKW-Betreiber

Die Rückstellungen in den Bilanzen der Kernkraftwerksbetreiber liegen derzeit bei 38,7 Milliarden Euro – aber zusätzlich zum Rückbau kommen auch noch die Kosten der Endlagerung. Das Geld haben die Unternehmen nicht flüssig auf dem Konto, sondern investiert, beispielsweise in konventionelle Kraftwerke. Doch seit mit der Energiewende diese Stromfabriken immer weniger Geschäft machen, die Anlagen mithin entwertet werden, bangt die Politik um die Rücklagen.

Zudem liebäugeln manche Unternehmen damit, die Altlasten in einer separaten Gesellschaft abzuspalten. E.On arbeitet bereits daran. Schnurrten die Rücklagen weiter zusammen, wäre die zukunftsfähige Muttergesellschaft aus der Haftung heraus, argwöhnt die Politik. Die Bundesregierung will deshalb „gesetzlich dafür sorgen, dass die Rückstellungen tatsächlich zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden“, bekräftigt die Atomausstiegsministerin.

Im Klartext: Der Fluchtweg soll verrammelt werden. Dagegen beklagen die Stromversorger, dass ihnen erst die lukrativen Atommeiler weggenommen und danach durch politische Entscheidungen auch noch die Rücklagen-Kraftwerke entwertet wurden.

Die Atomklagen der Energiekonzerne

In Lubmin gehen die Arbeiten planmäßig voran. Die rund 5000 vorhandenen Brennelemente wurden in 65 Castor-Behälter verpackt und im neu errichteten Zwischenlager deponiert, das auch alle anderen strahlenden Hinterlassenschaften aufnehmen soll. 2016, 20 Jahre nach dem Start, soll die gesamte Demontage abgeschlossen sein. Das Ende der Dekontamination freilich ist für 2028 kalkuliert, mithin fast 40 Jahre nach der Stilllegung der Reaktoren. Für Deutschland bedeutet das, dass die Arbeiten bis ins Jahr 2060 dauern werden; schließlich geht das letzte Kernkraftwerk 2022 vom Netz. Hendricks rechnet sogar mit noch längeren Zeiträumen.

Problemlos wird es nicht bleiben. „Eine Nachnutzungsvision fördert die Akzeptanz“, hat EWN-Chef Cordes aus den bisherigen Projekten – unter anderem dem Abbau der Kernforschungsreaktoren in Karlsruhe und Jülich – gelernt. Auch Hendricks rechnet fest damit, dass es an westdeutschen Kernkraftwerks-Standorten zu Protesten kommen wird, wenn erstmal die Bauteile zersägt werden sollen. „Dann muss man mit den Bürgern klar reden: Ihr wolltet den Ausstieg, dann muss jetzt auch der Rückbau kommen.“

Der zweite Engpass: Bald fehlen die Experten. Die Betriebsmannschaft der EWN beispielsweise ist im Schnitt 52 Jahre alt, etliche Mitarbeiter haben einst noch am jüngsten, dem fünften Reaktorblock des energetischen DDR-Stolzes mitgebaut. Schon dies, so Cordes, sei ein psychologisches Problem, das auch in den westdeutschen Standorten auftreten wird: „Die Betriebsmannschaften müssen abbauen, was sie einst aufgebaut haben.“ Cordes wünscht sich „einen Mix aus alten Hasen und Nachwuchskräften, die dann den Rückbau vollenden“.

Doch junge Kerntechnik-Ingenieure folgen nicht nach, seit die Kernenergie politisch geächtet wurde. Reihenweise wurden die Lehrstühle geschlossen. Mit dem Rückbau, glaubt Hendricks, könne man nun wieder besser für den Beruf werben, und die Beschäftigung sei auch gesichert. „Mit dem Rückbau sind wir sicher 80 Jahre beschäftigt, da kann man noch mehrere Generationen beschäftigen.“

Das größte Problem steht auch den Lubminer Zerlegern noch bevor. Die fünf riesigen Reaktordruckbehälter, in denen einst die Brennstäbe die kostbare Energie abgaben, stehen noch unverändert auf dem Gelände. Der Grund: Auch die Weltmarktführerin Sachen Rückbau wissen nicht, wie sie den 140 Tonnen schweren Ungetümen beim Entgiften und Zerkleinern beikommen könnten.

Ein wenig Zukunft kann die EWN zumindest schon vorzeigen. Derzeit kommen 14.000 bis 17.000 Touristen pro Jahr, um sich die Arbeiten anzuschauen. Und in der ausgeräumten Maschinenhalle, in der einst die acht großen Dampferzeuger standen, hat der Kranhersteller Liebherr eine Fertigung für große Ausleger, Brücken und Bauteile für Bohrinseln eingerichtet.

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