Barbara Hendricks' Sommerreise Greifswald ist ein Modell für den Atomausstieg

Die Kernenergie hat in Deutschland eine Zukunft. Wer sie besichtigen will, muss nur nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern fahren. Dort wird die größte heimische Reaktoranlage abgerissen – seit 20 Jahren.

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Bundesumweltministerin Quelle: dpa

Im Zeitlupentempo führt der Arbeiter den Schneidbrenner um die dickwandige gigantische Rohrverschraubung. Die Röhre samt Abzweig, Durchmesser gut 50 Zentimeter, muss er auftrennen, damit seine Kollegen später die Oberfläche der Innen- und Außenseite abtragen können. Wie ein Taucher der Frühzeit sieht der Mann aus in seiner monströsen Montur und dem klobigen Helm; durch einen Schlauch kann er atmen, er muss in einer luftdicht verschlossenen Kabine arbeiten. Denn sein Werkstück ist radioaktiv verstrahlt. Zu DDR-Zeiten hätte er wahrscheinlich den Titel „Held der Arbeit“ davongetragen – wenn er nicht das Erbe der DDR zerschmelzen würde.

Ein strahlendes Erbe. Auf dem Gelände des ehemaligen Kernkraftwerks Lubmin bei Greifswald läuft bereits, was in den nächsten Jahrzehnten auch in allen 17 westdeutschen Reaktoren vonstattengehen wird, die bis zum Atomausstieg Strom erzeugten. Die Fahrt nach Lubmin bei Greifswald, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks im Rahmen ihrer Sommerreise unternimmt, ist ein Blick in die Zukunft der hiesigen Kernenergie. In der DDR war es die Wende, in der Bundesrepublik die Energiewende, die den Reaktoren den Garaus machte. Bis zum Jahr 2060 dürfte es dauern, bis alle Meiler zurückgebaut, also abgerissen sind.

Die letzten Kernkraftwerke
AKW Grafenrheinfeld in Bayern Quelle: Creative Commons
Kernkraftwerk Gundremmingen Quelle: dpa/dpaweb
Kernkraftwerk Philippsburg Quelle: dpa
Kernkraftwerk Brokdorf Quelle: dpa
Kernkraftwerk Grohnde Quelle: dpa
Kernkraftwerk Neckarwestheim Quelle: dpa
Kernkraftwerk Isar II Quelle: dpa

In Lubmin erledigt die Energiewerke Nord GmbH (EWN), eine hundertprozentige Tochter des Bundes, die Demontage. Die vier großen, grauen Reaktorgebäude stehen noch, in denen im Endausbau acht Reaktoren Strom erzeugen sollten; auch die rund einen Kilometer lange Maschinenhalle. Aber das technische Innenleben ist bereits zu 85 Prozent verschwunden. „Wir wollen hier keine grüne Wiese hinterlassen, sondern eine braune Wiese“, sagt Henry Cordes, Vorsitzender der EWN-Geschäftsführung.

Wenn der Rückbau abgeschlossen ist, soll hier ein Gewerbestandort bleiben. Insgesamt 1,8 Millionen Tonnen Masse sind zu bewältigen. „Das ganze Kraftwerk muss am Ende in solche Paletten passen“, sagt Öffentlichkeitsarbeiterin Marlies Philipp und deutet auf Metallboxen mit den vergleichsweise lächerlichen Maßen von einem auf eineinhalb Metern.

Was nicht verstrahlt ist – der größte Anteil – kann ganz normal zerlegt und entsorgt oder dem Stoffkreislauf zugeführt werden. Die restlichen 600.000 Tonnen müssen aber so weit wie möglich von der Strahlung befreit werden, eine Sisyphos-Arbeit, vorwiegend von Hand zu erledigen. Das große Ziel: Maximal 10.000 Tonnen sollen schließlich in einem Atomendlager verwahrt werden müssen.

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In blauen 20-Fuß-Containern kommen die großkalibrigen Einzelteile in die so genannte Zentralaktive Werkstatt, weil hier mit radioaktivem Material hantiert wird. Derzeit liegen leicht kontaminierte Gussteile von großen Rohrleitungen parat. Die Brocken werden zerkleinert, dann ist die Reinigung der Oberflächen dran. Je nach Material werden sie mit Stahlkies beschossen, elektrolytisch behandelt, mit Säuren besprüht oder mit einem Wasserstrahl mit abgewaschen. Für die Fotografen nimmt Umweltministerin Hendricks eine solche Reinigungslanze in die Hand: „Bisschen größer als ein Kärcher, aber das System ist dasselbe“ – nur dass hier der Druck bei bis zu 3000 bar liegt. Durch ein Fenster in der Arbeitskabine kann man sehen, wie sich die Oberfläche verfärbt, sobald der Wasserstrahl oder die Stahlkiesdusche die oberste Metallschicht wegfegen, samt der Strahlung. Wenn die Teile danach „freigemessen“ sind, kann der Schrott weiter verwendet werden.

Die Arbeiten in Lubmin, die rund vier Milliarden Euro verschlingen werden, sind ein Vorgeschmack auf den Rückbau jener 17 Leistungsreaktoren, die bis zum überhasteten Atomausstieg am Netz waren. Langfristig kalkulieren Wissenschaftler ebenso wie EWN und die Betreiber mit rund einer Milliarde Euro Rückbaukosten pro Reaktor. Vielleicht wird es auch etwas weniger, weil Erfahrung und Skaleneffekte möglich sind. „Da das Ganze 20 oder 25 Jahre oder noch länger dauert, ist klar, dass bis dahin die Preise steigen“, warnt Hendricks dagegen. Genau könne das heute niemand sagen, aber die Planungen der EWN seien „eine fundierte Schätzung“. Dann wäre – in heutigen Preisen - mit maximal 20 Milliarden Euro zu rechnen.

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