Bedingungsloses Grundeinkommen Eine Utopie, die längst existiert

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Das Grundeinkommen existiert schon: als Steuerfreibetrag

Reduziert man das Grundeinkommen von all seinem Ballast, den es in Namen, Geschichte und Erwartungen mit sich trägt, bleiben ein paar wenige finanzielle Transaktionen. Zum einen soll der Staat all denen, die kein Einkommen haben, ein leistungsunabhängiges Existenzminimum zahlen. Die deutsche Sozialhilfe leistet genau das: Zwar ist ihre Höhe an Nachweise geknüpft, selbst wer die verweigert, kann aber nicht unter das Existenzminimum von derzeit 404 Euro fallen, für Kinder kommen mindestens 237 Euro hinzu. Zum anderen steht die Forderung, dass die Grundalimentation auch dann nicht entfallen soll, wenn man eine Arbeit aufnimmt. Auch das aber gibt es in Deutschland de facto längst. So müssen in Deutschland alle Einkommen unter 8652 Euro nicht versteuert werden. Im Vergleich zu einer vollen Besteuerung entspricht der Grundfreibetrag einer direkten jährlichen staatlichen Zahlung von 1211,28 Euro. Daraus ergibt sich ein real existierendes Grundeinkommen von 100,94 Euro im Monat für die arbeitende Bevölkerung.

Das ist natürlich deutlich weniger als die im Schweizer Modell vorgesehenen 2500 Franken monatlich. Allerdings verteilt der deutsche Sozialstaat über Krankenversicherung, Rentenregeln oder Leistungen für Bildung und Teilhabe aus Dutzenden Töpfen zusätzliches Geld, das im Verhältnis zur Bedürftigkeit gezahlt wird. Die Ergebnisse des Vergleichs fallen dann entsprechend willkürlich aus. So legten die Initiatoren in der Schweiz jüngst Zahlen vor, die belegen sollten, dass das Grundeinkommen so viele Leistungen überflüssig mache, dass am Ende nur ein geringer einstelliger Milliardenbetrag an Zusatzkosten entstehe. Ein paar Wochen vorher hatte die Uni St. Gallen die gleiche Rechnung durchgeführt – mit einem völlig anderen Ergebnis. Demnach würde das Grundeinkommen über 200 Milliarden Franken im Jahr kosten.

Schon die Debatte zeigt, dass hier nicht neue Gesellschaftsmodelle diskutiert werden, sondern bloß eine Umorganisation des Sozialstaats. Das ist zweifelsohne legitim. Die seit den Hartz-Reformen geltende Verknüpfung von Leistungshöhe und Intensität der Jobsuche wurde mit einem immensen bürokratischen Aufwand erkauft. Das Gleiche gilt für das progressive Steuersystem.

Im Kern aber ist all das, was die Grundeinkommensfreunde fordern, längst Teil unseres Alltags. Und vielleicht liegt genau darin der verborgene Nutzen dieser Trivialutopie für all die Weitdenker zwischen Mountain View und Berlin-Mitte. Gerade weil das Grundeinkommen letztlich dem existierenden Sozialstaat mit Ledersitzen entspricht, findet es so viel Zuspruch. Sollte die Welt der künstlichen Intelligenz aber tatsächlich unser Arbeitsleben von Grund auf verändern, dann hilft das Grundeinkommen so lange wie das Autotelefon in der Smartphone-Welt.

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