Berlin intern Der Mann, der Prof. Dr. Europa ist

Der wohl mächtigste Beamte in Brüssel kommt aus Deutschland. Das gefällt vielen in Berlin nicht.

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Selmayr Quelle: dpa

Martin Schulz, selbst ernannter größter Europäer aller Zeiten, erntete Kritik, als er kurz vor der Europawahl 2014 diese Anzeige verbreiten ließ: „Nur wenn Sie Martin Schulz und die SPD wählen, kann ein Deutscher Präsident der EU-Kommission werden.“ Schulz verlor nicht bloß Sympathien, sondern auch das Rennen um den Posten des Kommissionspräsidenten.

Sein Wunsch nach einer starken deutschen Stimme in Brüssel ist trotzdem in Erfüllung gegangen. Denn der siegreiche Rivale Jean-Claude Juncker berief als Kabinettschef Martin Selmayr, 44, gebürtiger Bonner, besondere Eigenschaft: besonders ehrgeizig. Über den Juristen kursiert in EU-Kreisen das Bonmot, ihm sei egal, wer unter ihm Kommissionspräsident werde. Dort besteht kein Zweifel, wer in der wichtigsten europäischen Behörde das Sagen hat: „der Deutsche“.

Die Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten
Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) hat ihren Spitzenkandidaten am 1. März in Rom gekürt: Martin Schulz. Der 58 Jahre alte SPD-Politiker gilt als wortgewandt, streitlustig, ehrgeizig. 2004 übernahm der gelernte Buchhändler aus dem nordrhein-westfälischen Würselen den Fraktionsvorsitz der Sozialisten, 2012 wurde er Präsident des Europaparlaments. Schulz ist Europäer aus Leidenschaft, schnell im Denken und im Sprechen. Auch auf Französisch und Englisch. Quelle: dpa
Die konservative Europäische Volkspartei (EVP) benannte ihren Kandidaten am 6. März in Dublin: Jean-Claude Juncker. Der frühere luxemburgische Premier geht als Favorit ins Rennen, weil die Christdemokraten seit langem im Parlament eine komfortable Mehrheit haben. Der 59-Jährige gilt als Mann der klaren Worte. Juncker ist eine feste Größe in der Europapolitik: Von 2005 bis 2013 war er Vorsitzender der Eurogruppe und wirkte entscheidend daran mit, die Eurokrise zu bewältigen. Der Jurist spricht fließend Englisch, Deutsch und Französisch. Quelle: dpa
Die europäischen Grünen bestimmten ihre beiden Spitzenkandidaten Ende Januar in der europaweiten Abstimmung via Internet: Einer davon ist José Bové. Der 60-jährige Franzose ist Landwirt, Schafzüchter, Umweltaktivist und hat die Anti-Globalisierungsbewegung Attac mitbegründet. Bekannt wurde der „Bauernführer“, als er 1999 mit Mitstreitern eine McDonald's-Filiale kurz vor deren Eröffnung demolierte. Seit 2009 sitzt Bové für die Grünen im Europaparlament. Quelle: AP
Die zweite Kandidatin der Grünen ist Franziska ("Ska") Keller. Die 32-Jährige ist in Deutschland eher unbekannt. Die frühere Landesvorsitzende der Grünen in Brandenburg zog 2009 ins Europaparlament ein. Keller studierte Judaistik, Islamwissenschaft und Turkologie. Sie spricht Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch und Arabisch und ist mit einem Finnen verheiratet. Quelle: dpa
Die Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) schickt ebenfalls zwei Spitzenkandidaten ins Rennen, einer davon ist Guy Verhofstadt. Verhofstadt ist Belgier aus Flandern und überzeugter Europäer. Der 60-Jährige war bis 2008 insgesamt neun Jahre Ministerpräsident seines Heimatlandes. Seit 2009 ist der studierte Jurist Fraktionschef der europäischen Liberalen im Europaparlament. Verhofstadt und seine Frau haben zwei Kinder. Quelle: dpa
Der Finne Olli Rehn arbeitet seit 2004 als EU-Kommissar. Bis 2010 betreute er die EU-Erweiterung, danach übernahm er das Ressort Wirtschaft und Währung. Rehn hat in den USA und in Helsinki Politik, Wirtschaft, Journalismus und internationale Beziehungen studiert. Der 52-jährige wird in Brüssel als Vermittler und Diplomat geschätzt. Quelle: REUTERS
Die europäische Linke nominierte ihren Spitzenkandidaten im Dezember: Alexis Tsipras. Der Senkrechtstarter aus Griechenland begann seine politische Laufbahn in den 1990er Jahren als Studentenführer. Er nahm an Demonstrationen der Globalisierungskritiker in Berlin, Genua und Florenz teil. 2008 wurde er Vorsitzender der Linkspartei Syriza. Der 39-Jährige gilt als ausgezeichneter Redner. Er lebt mit seiner Lebensgefährtin und zwei Söhnen in Athen. Insgesamt gibt es dreizehn europäische Parteienbündnisse, aber nicht alle stellen einen Spitzenkandidaten auf. Quelle: REUTERS

Freut dies Berliner Beamte und Politiker? Eher nicht, wie gerade bei einer Stippvisite von Selmayr in der deutschen Hauptstadt zu beobachten war. Hiesige politische Entscheider stöhnen auf, wenn sie den Namen von Junckers rechter Hand hören. Ihr Fazit lautet: Man habe sich ja eine dynamischere EU-Kommission gewünscht. Aber ganz so dynamisch wie Selmayr – der auch am Wochenende so oft im Büro anzutreffen ist, dass ihn seine Frau dort besucht, und der als Freizeitausgleich Europarecht an der Universität lehrt – vielleicht doch nicht.

Genüsslich spöttelt man in Berlin über dessen öffentliche Juncker-Verehrung – die Professor Dr. Selmayr bei einem Mittagsgespräch in der lokalen Dependance der Europäischen Kommission bereitwillig zelebrierte. 200 Zuhörern lieferte er eine einstündige Lobeshymne auf Europa im Allgemeinen und Juncker im Speziellen. „Ich habe ihn mir schon vor zehn Jahren als Kommissionspräsidenten gewünscht“, sagte Selmayr und schien dies ernst zu meinen. „Wir müssen Europa ein menschlicheres Gesicht geben“, fügte er hinzu, „und ich glaube, dass Juncker dieses Gesicht sein kann.“ Der Luxemburger sei ein politischer Präsident mit Gespür für die Besetzung der Kommission.

Ein wenig zu politisch wohl nach Berliner Maßstäben, das erklärt die dortige Abneigung gegen Selmayr. Denn der macht keinen Hehl daraus, dass er Machtworte aus großen Mitgliedstaaten wie Deutschland eher gering schätzt – und sich dem Christdemokraten Juncker auch nahe fühlt, da diesem ein Europa der Solidarität und der starken EU-Institutionen vorschwebt.

Berlin schwebt derzeit eher ein Europa der Regeln vor. Als Selmayr dort zum Besten gab, Juncker lese sogar deutsche Zeitungen, lautete prompt ein verstohlener Konter, man würde lieber seltener von Juncker in deutschen Zeitungen lesen. Denn just am Besuchstag seines Kabinettschefs warb der in der „Süddeutschen Zeitung“ wieder um mehr Verständnis für die Griechen – genau wie Selmayr, der vor einem rein ökonomischen Blick auf die Krise warnte. „So funktioniert Europa nicht. Europa hat eine Seele. Dafür wird Juncker kämpfen.“

Derart beseelte Sätze nerven mitten in den chaotischen Verhandlungen mit Athen viele Bundesbeamte. Sie raunen, Selmayr solle nicht übertreiben, er verfüge nur über geliehene Macht. Doch man sollte dessen Entschlossenheit nicht unterschätzen. In Brüssel erzählt man sich diesen Witz: Was ist der Unterschied zwischen Selmayr und Gott? Antwort: Gott denkt nicht, Selmayr zu sein.

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