Was hat es die Deutschen erregt, dass sich viele Briten offensichtlich erst nach dem Brexit-Referendum per Google über mögliche Folgen informierten. Wir sind da wissbegieriger, allerdings auch einseitiger. Wie eine ZDF-Analyse des Suchverhaltens der Bundesbürger gerade ergab, googeln diese etwa zum Freihandelsabkommen TTIP ausgesprochen gerne, allerdings fast nur Negatives. Die Kombination „TTIP und Vorteile“ landete abgeschlagen auf Platz 14 der deutschen Suchanfragen.
Dieser Trend dürfte sich nach der Brexit-Entscheidung eher verschärfen, schließlich gehörten die Briten zu den wenigen klaren Befürwortern des Freihandelsabkommens. Zwar versuchen die europäisch-amerikanischen Verhandler offiziell weiterhin, bis zum Jahresende – und vor dem Ablauf der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama – einen Vertragstext zu erstellen. „Doch ich kenne niemanden, der glaubt, dass das gelingen wird“, sagt einer der hochrangigsten Handelsexperten in Washington. In Berlin sind sogar pessimistischere Töne zu vernehmen, schließlich hat sich dort die öffentliche Unterstützung dramatisch verschlechtert.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Nur 17 Prozent der Deutschen halten das Abkommen noch für eine richtig gute Idee. Deutsche Antifreihandelsaktivisten sagen offen, sich mittlerweile eher auf Überzeugungsarbeit im Nachbarland Frankreich konzentrieren zu können. Viel Arbeit ist dort nicht mehr zu verrichten. Gerade erklärte der französische Premier Manuel Valls, man solle TTIP beerdigen.
Hierzulande hält Kanzlerin Angela Merkel, die zu den frühesten Fans einer Handelseinigung gehörte, offiziell an dem Projekt fest. Doch selbst sie lässt mittlerweile Skepsis durchblicken. Der Wirtschaftsrat der Kanzlerinnenpartei CDU, sonst vehementer Unterstützer von freiem Handel, hat vor Kurzem eine TTIP-Umfrage unter seinen Mitgliedern durchgeführt.
Kritik der Umweltschützer an TTIP
Egal ob Creme, Lippenstift oder Mascara – in Europa müssen solche Produkte eine Zulassung überstehen, die es in den USA so einheitlich nicht gibt. Sicherheitstests erfolgten dort freiwillig, heißt es beim Sachverständigenrat. Sonnenmilch allerdings gelte in Amerika als Medikament und sei streng reguliert.
Die Europäer wollen geklonte Nutztiere und Klonfleisch verbieten, auch deren Import. In den USA gibt es dagegen kein einheitliches Verbot. Gentechnisch veränderte Tiere, etwa Lachse, die schneller wachsen, sind dort bereits zugelassen und im Handel. Eine besondere Kennzeichnung ist nicht vorgeschrieben.
Gentechnisch veränderte Pflanzen und Nahrungsmittel müssen in der EU zugelassen und später gekennzeichnet werden. Das gilt auch für Futtermittel. Einzelne Mitgliedsstaaten können seit 2015 auf ihrem Gebiet sogar einzelne gentechnisch veränderte Pflanzen verbieten. In den USA ist nicht nur die Zulassung großzügiger, gentechnisch veränderte Lebensmittel werden regelmäßig nicht kenntlich gemacht.
Pflanzenschutzmittel, die möglicherweise Krebs erregen oder vielleicht das Erbgut schädigen können in der EU erst gar nicht auf den Markt – anders als in den USA.
Die Verordnung REACH gilt mit als schärfstes Chemikaliengesetz weltweit. Darin wird ein Zulassungsverfahren, eine Risikobewertung und teils eine Beschränkung für Chemikalien von der Herstellung in der Fabrik bis zum buntgefärbten T-Shirt beim Endverbraucher festgeschrieben. In den USA gilt kein vergleichbares „Vorsorgeprinzip“ bei Chemieprodukten.
Das niederschmetternde Ergebnis: 40 Prozent sahen eine Einigung dazu als wenig wichtig an.
Auch der Wirtschaftsminister – und mutmaßliche SPD-Kanzlerkandidat – Sigmar Gabriel, der lautstark für das Abkommen trommelte, hat seine Prioritäten rund ein Jahr vor der Bundestagswahl neu sortiert – weg von zu viel Wirtschaftskompetenz, hin zu einer möglichen linken Mehrheit in Deutschland. Überschwänglicher Jubel für TTIP passt dazu nicht so gut.
Gabriel hat zudem längst ein anderes Problem, namens Ceta. Das bislang wenig beachtete Handelsabkommen mit Kanada soll laut EU-Kommission in nationalen Parlamenten nicht mehr zustimmungspflichtig sein. In Brüssel besteht die Sorge, einzelne Parlamente könnten sonst Europas Handelspolitik blockieren.
Der Kommissions-Kurs erzürnt neben Kanzlerin Merkel auch Gabriel, schließlich wissen beide, dass Freihandelskritiker auf so eine Steilvorlage nur warten.
Daher gilt im Wirtschaftsministerium nun die Ansage, wer ein ordentliches TTIP wolle, müsse ein Ceta ohne Mitbestimmung des Bundestages stoppen. Das „dumme Durchdrücken“ werde Verschwörungstheorien zum Freihandel „explodieren“ lassen, sagt Gabriel. „Wenn die EU-Kommission das macht, ist TTIP tot.“ Ein heißer Sommer für den Freihandel, allerdings ohne kühle Köpfe.