Politiker sagen viel, jeden einzelnen Tag. Aber wenn sie etwas ganz Neues sagen wollen, überlegen sie sich sehr genau, an welchem Tag sie dies tun.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der WirtschaftsWoche am Samstag, genau 24 Stunden vor der wichtigen Berlinwahl, bemerkenswerte Worte gesagt. Es ging um ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“, an dem Merkel über ein Jahr lang unbeirrt festgehalten hatte - zu dem sie nun aber auf einmal mehr als eine Armlänge Abstand halten wollte. „Manchmal denke ich aber auch, dass dieser Satz etwas überhöht wird, dass zu viel in ihn geheimnist wird“, sagte Merkel unserem Magazin und fügte hinzu: „So viel, dass ich ihn am liebsten kaum noch wiederholen mag, ist er doch zu einer Art schlichtem Motto, fast zu einer Leerformel geworden.“ Merkel ließ sogar durchblicken, wie bewusst ihr die negative öffentliche Reaktion auf ihren Satz geworden ist: „Manch einer fühlt sich von ihm sogar provoziert“, sagte sie.
Die Kanzlerin verband mit diesem ungewöhnlichen Vorstoß, so ist anzunehmen, gleich zwei Hoffnungen. Sie wollte ihrem schärfsten Kritiker in der Flüchtlingskrise, CSU-Chef Horst Seehofer, ein wenig entgegen kommen. Der hat sich schließlich immer auch an „Wir schaffen das“ gerieben – den Satz könne er sich nicht zu Eigen machen, ließ Seehofer mehrfach verlauten.
Merkel wollte aber wohl auch vor der Wahl in Berlin vielleicht doch noch mit allen Mitteln retten, was für die Union zur Ausnahme geworden ist – Regierungsbeteiligung in den Bundesländern. Das Ergebnis von Berlin zeigt: So schnell geht das nicht. Die große Koalition in Berlin ist Geschichte, damit wohl auch das Mitregieren der CDU. Zwar ist die Union nicht wieder, wie in Merkels politischer Heimat Mecklenburg-Vorpommern, auf dem dritten Platz gelandet, noch hinter der AfD. Aber sie hat erneut deutlich verloren und sie ist nun nur noch in sechs Landesregierungen vertreten.
Und: Merkel wird dafür erneut persönlich verantwortlich gemacht. 52 Prozent der Berliner Wähler, so zeigten Umfragen, machten sie direkt verantwortlich für das Abschneiden der CDU, weit mehr als den unglücklichen lokalen Spitzenkandidaten Henkel. Man könnte sagen: Merkels Distanzierung von „Wir schaffen das“ ist zumindest in Berlin mit großer Distanz aufgenommen worden.
Daher wird, schon am Montag, die Debatte um Merkels politische Zukunft weitergehen – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern vor allem in der Union. In ersten Stellungnahmen nach der Wahl war von Parteioberen zwar ein „Weiter so“ zu vernehmen. Aber das dürfte sich schon am Montag ändern, wenn die wichtigen Parteigremien tagen und auch CSU-Chef Horst Seehofer vermutlich seine Einschätzung mitteilen wird.
Merkel muss zuallererst eine Art Burgfrieden mit Seehofer finden, der zuletzt signalisiert hatte, sie nicht zu unterstützen zu wollen, sollte sie seinen Vorschlag einer Obergrenze für Flüchtlinge weiter ablehnen. Der könnte so aussehen: Seehofer spricht zwar weiter über diese Obergrenze, meint das aber nicht wirklich so.
Zweikampf mit Seehofer gewinnen
Damit er das tut, muss Merkel ihm aber weiter entgegen kommen - etwa indem sie zusätzlich eingesteht, auch Fehler gemacht zu haben in der Flüchtlingskrise.
Lediglich wie in der „WirtschaftsWoche“ zu sagen, die Wirkung ihres Satzes „Wir schaffen das“ sei falsch eingeschätzt worden und sie werde diesen nicht mehr wiederholen, dürfte dafür nicht genügen.
Denn daraus klingt statt echter Selbstkritik eher an, dass Merkel sich vor allem missverstanden fühlt. Die Kanzlerin müsste aber auch klar machen, dass sie den Bürgerwillen in der Flüchtlingsfrage teilweise falsch verstanden hat.
Also winkt Merkel nun der doppelte Wahlkampf. Sie muss erst einmal in ihrer Partei den Zweikampf mit Seehofer gewinnen. Der Bayer kann sie zwar nicht ersetzen, das hat er längst selbst eingesehen. Aber er könnte sie verhindern helfen – oder so weit triezen, dass Merkel sich gegen eine erneute Kanzlerkandidatur entscheidet.
Gelingt es Merkel, den Streit mit Seehofer zu entschärfen, muss sie aber zudem noch in den öffentlichen Wahlkampf zählen. Ihr mutmaßlicher SPD-Herausforderer Sigmar Gabriel mag schwach wirken, schon am Montag muss er um Rückendeckung seiner Partei für das umstrittene Ceta-Freihandelsabkommen mit Kanada zittern. Aber die Option einer rot-rot-grünen Koalition in Berlin zeigt, dass sich der SPD neue Machtoptionen bieten.
Auf Bundesebene dürfte Merkel auch kommendes Jahr weiterhin mehr Machtoptionen haben, sie bleibt die klare Favoritin auf das Kanzleramt. Aber selbst wenn das für sie nicht in Gefahr geraten sollte, wird CDU-Parteichefin sich unionsintern fragen lassen müssen: Wie weit ist sie bereit, für ihren eigenen Machterhalt eine Dame ohne Unterleib, sprich ohne CDU-Machtbasis in den Bundesländern, zu werden?