Berlin Warum Berlin anders ist, als viele denken

Berlin feiert sich als coole Boomtown für IT-Gründer. Aber das Wahldesaster der regierenden Parteien zeigt: Viel davon ist Wunschdenken der Politiker. Die Klischees über die Hauptstadt stimmen einfach nicht mehr.

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Berlin zwischen sexy Boomtown und armer Hauptstadt. Quelle: Laif

Ein Donnerstagabend im Spätsommer in Berlin-Mitte, in der Nähe des Alexanderplatzes. Im The Grand treffen sich Unternehmer der Hauptstadt. Die Mitglieder des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller sind erschienen, die vom Unternehmer-Dachverband auch, Repräsentanten der örtlichen Handelskammer sowieso. Bei Kalbsfilet und Bohnen im Speckmantel ziehen sie alle Bilanz vor der anstehenden Wahl zum Abgeordnetenhaus.

Es überwiegen Töne der Zufriedenheit. 120.000 sozialversicherungspflichtige Jobs seien in den vergangenen drei Jahren entstanden, heißt es, mehr als 40.000 Unternehmensneugründungen jährlich habe es gegeben. Erstmals seit der Wende liege die Arbeitslosenrate wieder unter zehn Prozent, außerdem übernachteten jährlich 30 Millionen Besucher in der Hauptstadt. Berlin, so das Fazit der Runde, ist alles in einem: Gründerhauptstadt, Tourismusmagnet, Start-up-Metropole. Einer der Teilnehmer bringt es auf den Punkt: „Wo Berlin ist, ist vorne.“

Doch ein anderer stört die Jubelstimmung. „Klar, Berlin wächst“, sagt er, „aber die Frage ist doch: Blüht Berlin auch?“

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Darauf weiß niemand so recht eine Antwort. Zwar gilt der erste Teil des Satzes von Exbürgermeister Klaus Wowereit (SPD), seine Stadt sei arm, aber sexy, immer weniger. In 2015 wuchs die lokale Wirtschaft um drei Prozent, nur Baden-Württemberg war besser. Aber dort liegt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im Schnitt bei 42.745 Euro, während Berlin nur auf rund 34.000 kommt. Selbst Bremen liegt weit vor Berlin. Um zur Reichtumsspitze aufzuschließen, müsste die Hauptstadt stärker boomen – und höherwertige Arbeitsplätze schaffen. Die Bürger scheinen das zu merken und misstrauen der Politik. Bei der Wahl erlebten die regierenden Parteien ein Debakel. Die SPD verlor knapp sechs Prozentpunkte und erreichte gerade mal 21,6 Prozent, die CDU sackte auf das schlechteste Ergebnis überhaupt ab: 17,6 Prozent. Die AfD landete bei 14,2 Prozent. Offenbar halten die Mythen von der Boomtown Berlin dem Realitätscheck nicht stand. Eine WiWo-Bilanz:

Die Mär vom ökonomischen Kraftzentrum

Gäbe es die Hauptstadt nicht, läge das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner im Schnitt 0,2 Prozent höher. Berlin zieht Deutschland statistisch nach unten. Zum Vergleich: Japan ohne Tokio wäre sechs Prozent ärmer, Großbritannien verlöre ohne London elf Prozent, Frankreich ohne Paris sogar 15 Prozent.

Berlin ist und bleibt ökonomisch ein Zwerg – national wie international. US-Konzerne haben ihre Deutschlandzentrale in München (Amazon, Yahoo, Microsoft) oder Hamburg (Google, Facebook). Wegen des Erbes der deutsch-deutschen Teilung liegt das Berliner BIP pro Kopf auf südeuropäischem Niveau, so ein Metropolenvergleich des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Die Arbeitslosenquote ist weiterhin doppelt so hoch wie im Bundesschnitt.

Die Mär von der liberalen Hochburg

Es gibt keine Sperrstunde, und Kiffen ist quasi erlaubt – so sehen Außenstehende die deutsche Hauptstadt gerne. Doch unter der rot-schwarzen Koalition wurde die liberale Hochburg spießig(er). Die straffreie Freigrenze von Cannabis wurde in einigen Bezirken von 15 auf 0 Gramm gesenkt. Und die Spätis, Berlins beliebte Kioske, dürfen am Sonntag offiziell nicht öffnen, wenn sie mehr als Blumen, Zeitungen oder Brötchen verkaufen.

Die Mär von der Start-up-Hauptstadt

Private Wohnungen, so sieht es das von Rot-Schwarz verabschiedete Zweckentfremdungsverbot vor, dürfen nicht mehr untervermietet werden. So scharf ist kein Gesetz gegen die boomende Sharing Economy irgendwo auf der Welt. Die Politik trifft nicht nur US-Riesen wie Airbnb, sondern auch lokale Kleinunternehmer, die Geld in die Sanierung von Ferienwohnungen steckten, bevor das Geschäftsmodell verboten wurde.

Und: Im ersten Halbjahr dieses Jahres floss das meiste Risikokapital nicht mehr nach Berlin, wie noch 2015, sondern nach London. Auch Stockholm und Paris kassierten mehr. Zwar sagt Oliver Samwer, Chef von Rocket Internet: „Wir haben noch nie Probleme gehabt, Leute nach Berlin zu holen.“ Aber er weiß: Das liegt am coolen Umfeld, nicht an politischen Rahmenbedingungen.

Die Mär von der hilfreichen Verwaltung

Berlin wolle der Welt ein freundliches Gesicht zeigen, sagt Bürgermeister Michael Müller (SPD) gerne. Seine Bürger treffen dieses Gesicht in Amtsstuben selten an – wenn sie überhaupt eins sehen. Wer heute einen Personalausweis beantragen möchte, muss bis November auf einen Termin warten. Nicht einmal das Geldausgeben gelingt. Das „Sondervermögen Infrastruktur der Wachsenden Stadt“ ist wegen Haushaltsüberschüssen mit knapp 700 Millionen Euro gut gefüllt. Es soll helfen, marode Schulgebäude, Krankenhäuser und Hochschulen zu sanieren. Doch bislang wurden erst zehn Prozent ausgezahlt. Berlin investiert heute nur sieben Prozent des Haushaltes. Damit ist es Schlusslicht unter den Bundesländern. Ein Grund: Die mächtigen Bezirke, oft größer als Städte wie Bielefeld, hängen bei der Bauplanung hinterher. Berlin bräuchte eine Gebietsreform.

Freilich gibt es auch negative Mythen über die Hauptstadt, die sich hartnäckig halten, aber mit der Wahrheit nur noch wenig zu tun haben, etwa:

Bis zum Ersten Weltkrieg war Berlin das industrielle Herz Deutschlands, Gründungssitz etwa von Siemens. Heute gilt die Hauptstadt als industrielles Brachland ohne einen einzigen Dax-Konzern. Aber: 13 der 30 größten deutschen Unternehmen haben Teile ihrer Forschung dorthin verlegt. „Daraus können sich nachhaltige Strukturen entwickeln“, sagt IW-Experte Klaus-Heiner Röhl. Hinzu kommen gute Unis und Forschungszentren. Nur Stockholm und Paris verzeichnen in der EU mehr Patente pro Kopf.

Die Mär vom Verkehrschaos

Berlins Pannen-Flughafen BER wurde zum nationalen und internationalen Gespött. Darüber vergisst man: Keine andere Stadt hat ein so gut funktionierendes Nahverkehrssystem. Nirgendwo gibt es mehr Haltestellen pro 100 000 Einwohner. Auch Carsharing boomt, nun sogar mit schicken Elektrorollern. Aber die Verwaltung bremst auch hier. Das Start-up CleverShuttle erhielt erst nach anderthalb Jahren eine Sondererlaubnis, um ein Sammeltaxi mit Elektroantrieb zu genehmigen, unter strengen Auflagen. München hingegen rollte CleverShuttle den roten Teppich aus. Es bleibt also dabei: Berlin ist eine sexy Weltstadt, trotz der lokalen Politik. Nicht wegen ihr.

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